»Guckt euch doch selber an!«

Bedrängender Spielzeitbeginn am Berliner Ensemble: »Woyzeck« von Georg Büchner

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer derzeit ins Theater geht, entflieht der »Tagesschau«. Entkommt Nachrichten vom imperialen russischen und vom nationalen ukrainischen Geist. Wird verschont von Bildern mit Messern an fremden Hälsen. Oder weltweit ununterscheidbaren Tarnanzügen, gezückten Schusswaffen. Und dann beginnt so ein Theaterabend, und die Tarnanzüge, sagen wir: der Bundeswehr, füllen die Bühne. Willkommen zu Hause in der Welt.

Leander Haußmann inszenierte am Berliner Ensemble »Woyzeck« von Georg Büchner. Woyzeck: ein Soldat. Das ist der Kern seiner Inszenierung. Die Soldatenhorde stampft, stiert, steht dicht wie ein Wald, durch den sich Woyzeck und andere immer erst zwingen und zwängen müssen, wenn sie ins Freie des Bühnenvordergrunds wollen; ein böses Dickicht, erinnernd an Heiner Müllers Herakles, der sich hart rudernd durch den Wald schlägt, auf der Suche nach der Hydra, nach dem tödlichen Tier, nach dem Feind - bis er erkennen muss: Der Wald ist das Tier. Wir greifen zu den Waffen, gegen den Feind, und erkennen zu spät: Wir selber sind uns ein Feind. Das Dämonische ist kein Fremd-Körper, nein, wir müssten um des lieben Friedens willen schon uns selber den Krieg erklären, unserem eigenen Beharrungsvermögen in Gier, in Gehorsam, in Gerechtfertigtsein und Gleichgültigkeit. Haußmanns Soldaten trampeln es wummernd in den Bühnenboden. Es ist, als spritze aller Poesie das Blut aus einem getretenen Körper.

Wenn dieser Woyzeck (Peter Miklusz) seine Marie (Johanna Griebel) lieben will, dann fingert er, schwitzig-irre lachend, tief in seiner Hose und findet ihn endlich und holt ihn fiebernd heraus - den kleinen Geldschein, der ihn als Menschen beglaubigt. Der Billiglohn seiner Sklavenexistenz. Der Schein, den er wahren muss, um den viel schlimmeren Schein zu wahren: ein Ernährer zu sein. Der geliebten Frau und dem Kind, dessen weiches Wimmern immer wieder auf die Szene dringt, wie eine Störung, wie eine Last. Und auf der Rückwand groß: der Schatten des Kinderwagens, wie ein gespenstisches Sternzeichen - diesem Paar, das unter allen nur denkbaren Unsternen einzig bloß Leiden lebt.

Angst. Das ist immer der Beginn des Dramas. Die Angst davor, dass der Kopf nichts mehr versteht und er damit die Welt begriffen hat. Woyzeck wird zum Mörder am Liebsten, das er besitzt. Haußmann erzählt: Die Lust am Massaker ist längst nicht mehr gekettet an ideologische Verblendungen, revolutionäre Opfermythen, religiöse Hingebung, wahnpolitische Ergebenheiten. Der Hass ist um uns, in uns, die geistige Abgrenzung gehört zu unserem politischen Gemüt, nur unterliegen Millionen Menschen zum Glück einer Domestizierung ihrer Anlagen zu Aggressivität und Zerstörung. Bis jetzt jedenfalls. Weiß jeder genau, was morgen in ihm geschehen könnte? In ihm - und mit ihm. In jenem undurchdringlicher werdenden Netz, in dem, um tapfer und taff Leben nachzuweisen, oft nur noch gezappelt werden kann. Ab und zu schießt einer. Oder sticht zu.

Bisherige Woyzecks. Viktor Tremmel bei Volker Lösch in Dresden: Woyzeck als Bierpullen-Kopfloser; Nazigebrüll und Prekariats-Pogromlüste. Bruno Cathomas bei Thomas Ostermeier, Schaubühne: ein Gehetzter im Plattenbau-Panorama, ein weicher, ungelenker, rührender Scheiter-Haufen Mensch; fast staunend beobachtet er, wie sich ungeheure Dinge in ihm vorbereiten. Der Woyzeck des entrückungstollen Jens Harzer in München hatte eine frappierende Leichtigkeit im Gefoltertsein, im Gefängnis seiner Einsamkeit war er ein fast glückseliger Wärter. Peter Moltzen bei Michael Thalheimer, Hamburg: Er holte sich mordend eine Welt zurück, die er nie besaß - er tötete alle Figuren des Stücks, die Kreatur nicht als Opfer, sondern als Auslöser einer Vernichtungsorgie, der all die Gründe, um gehasst, gefürchtet zu werden, selber souverän vorgab.

Auch Haußmann tut uns nicht den Gefallen psychologischer Versenkungen, die den psychosozialen Fall Woyzeck ins allgemeine Betroffenheitsbad tauchen - auf dass wir selber uns vergoldet wähnen dürfen, mit unserer so durchtrainierten Gabe zum Mitempfinden. Die Inszenierung zeigt kollektive Perversionen, die mittels einer Geschichte aus dem 19. Jahrhundert Jetztzeit als Scheißzeit offenbaren. Es gelingen großartige Bilder. Woyzeck trägt blutige Klistier- sowie Durchfallspuren an seiner Unterhose. Ihm wird Erbsensuppe verabreicht, als werde soeben Water-Boarding erfunden. Seiner Marie, im roten Kleid der feurigen Begierde, kauft er eine Portion Zuckerwatte, und es ist traurigst grandios: Haußmann muss diese Zuckerwatte lediglich in die Strömungslinie einer Windmaschine halten lassen, und was da verfliegt, ist alles Süße an Hoffnung und Halt. Eine Jahrmarktszene - überhaupt durchmischen sich auf bitterst leichte Art Drill und Drolligkeit, Grölen und Gaukelei, die rauschhaft beschwingte Selbstverlorenheit auf dem Rummel und die rammende, rammelnde Motorik der besinnungslos funktionierenden Militaria. Hauptmann (Boris Jacoby) und Ärztin (Traute Hoess) sind ferngesteuerte Gestalten einer ins Irre gelaufenen Evolution. Der Mensch wurde nicht geschaffen, um an einen Stuhl gekettet zu bleiben (er bringt es hier nicht mal fertig, einen Klappstuhl ordentlich zu entfalten), er muss in die Welt ziehen, in seine Welt: den Krieg.

»Der Aff ist Soldat«, heißt es bei Büchner über den Anteil der Befehlskultur an der Tierwerdung des Menschen. Peter Luppa, kleinwüchsig, spielt den leibhaftigen Affen, mit Brille, Büchsenbier und MPi, der stoische Automat in Reih und Glied. Alle hier tragen eine menschengeschichtliche Frühbehaarung auf der verlederten Seele. Haußmann lässt beleuchtete Zelte wie große Käfer durch die Nacht geistern, und er zaubert einen verblüffend perfekten Zeitlupentanz auf die Bühne, die Soldaten reiten in Slow Motion, wie auf einem Karussell, auf farbigen Luftballontieren - Theater, als liefe da ein Film; dazu immer wieder wunderschön triefendes Schmalz aus der Popgeschichte.

Der Abend exerziert’s uns ins Gemüt: Militär ist Rückwurf des Menschen in vorzivile Niedrigkeit. Weil Soldaten gebraucht werden, ist die Welt nach wie vor im Rohzustand. Wo sich Menschen als Soldaten gebrauchen lassen, holen sie sich diesen Rohzustand in Körper und Seele. Wenn Woyzeck seine Marie zersticht, wieder und wieder, dazwischen Liegestütze, dann tut er es auf grasgrünweichem Grund, und plötzlich erhebt sich diese Geborgenheitsmatte: wieder die Soldatenformation, die gut getarnt den Erdboden gebildet hatte - gleich wird sie jeden Messerstich laut skandierend befeuern: Woy-zeck!, Woy-zeck!

Zur nahezu dröhnenden »Figaro«-Arie Rossinis rasiert Woyzeck den Hauptmann, schneidet ihm, fast höflich beiläufig, die Kehle durch, seift ihn ein, zerstückelt ihn, der Amokläufer als Traumtänzer, ein brutales, gnadenlos komisches Bild, eine räudige Raserei - der Hauptmann überlebt’s, labert seine blöde Lebensphilosophie herunter, und im japsenden, irre staunenden Woyzeck vollendet sich die Unfassbarkeit der Szene zwischen Albtraum und Realität, zwischen dem Abstoßenden und zugleich Anziehenden einer solchen Mordsequenz.

Es sind, unter dunkler Rauschwade, zwei bildstarke Stunden der Beklemmung. Vorsätzlich grob. Gefährdet aufdrehend. Mit Bedacht überdeutlich. Man schaue auf Edvard Munchs »Schrei« und sehe sich den Woyzeck von Peter Miklusz an. Dämonische Schlieren gespenstern um einen Kopf. Pressen ihn schier zusammen. Er wird wohl bersten. Ja, der schreiende Kopf wird bersten. Die Augen sind groß und blind. Als hätten sie zu viel Unerträgliches gesehen. Seine Nacktheit nach dem Mord: Das ist die entsetzliche Leichtigkeit des Nicht-mehr-von-dieser-Welt-Seins. Ein Arm-Wedeln, als könne man über die Welt fliegen. Als ein längst schon Zerschmetterter. Ein blutiges, böses Elend, dieser Menschenrest da. »Guckt euch doch selber an!«, sagt Woyzeck ins Publikum. Der Satz darf mitgenommen werden nach Hause, wo wir dann wieder den Kopf schütteln über die Bilder der Nachrichtensendungen. Als schauten wir auf etwas, das nichts mit uns zu tun hat.

Nächste Vorstellungen: 19., 23., 27. September.

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