Endspurt vor historischem Schotten-Votum
Unabhängig - oder nicht? »Nein«-Lager hat in Umfragen knapp die Nase vorn / Premierminister Cameron warnt vor »schmerzhafter Scheidung«
Berlin. Vor dem europaweit gebannt erwarteten Referendum in Schottland haben sich Unabhängigkeitsbefürworter und Gegner einen emotionsgeladenen Endspurt geliefert. Bei einem »Ja« am Donnerstag würden die Schotten dann am Freitag »am ersten Tag eines besseren Landes aufwachen«, schrieb Regierungschef Alex Salmond in einem offenen Brief. Der britische Ex-Finanzminister Alistair Darling versprach hingegen einen »schnelleren« Wandel durch einen Verbleib im Königreich. In Umfragen lag das »Nein«-Lager knapp vorn.
Mehr als vier Millionen Einwohner Schottlands sind am Donnerstag aufgerufen, nach 307 Jahren für oder gegen die Gründung eines unabhängigen Staats zu stimmen. Der Vorsprung der Abspaltungsgegner betrug in letzten Umfragen rund vier Prozentpunkte. Die Befürworter glaubten aber angesichts von rund zehn Prozent Unentschiedenen noch an ihre Siegchance. »Lasst euch nicht erzählen, wir könnten das nicht schaffen«, schrieb Salmond in dem Brief an die Schotten. »Es geht darum, die Zukunft eures Landes in eure Hände zu nehmen.«
Aufgeschreckt durch eine Umfrage, die das Unabhängigkeitslager vorn sah, hatten die politischen Spitzen Großbritanniens in den vergangenen Tagen intensiv um die Schotten geworben. Premierminister David Cameron warnte vor einer »schmerzhaften Scheidung«, welche die Schotten teuer zu stehen komme. Mit wortreichen Versprechen für mehr Selbstbestimmung versuchten die drei großen Parteien aus London, die Schotten im Boot zu halten.
Bei einem Verbleib im Königreich werde der Wandel für Schottland »schneller und besser«, versprach Ex-Finanzminister Darling am Mittwoch in der BBC. Der schottische Labour-Politiker und frühere britische Premierminister Gordon Brown sagte bei einer Veranstaltung in Glasgow: »Wir haben gemeinsam zwei Weltkriege ausgefochten.« Es gebe keinen Friedhof in Europa, auf dem Schotten, Engländer, Waliser und Iren nicht Seite an Seite liegen würden. »Als sie zusammen kämpften, fragte keiner den anderen nach seiner Herkunft«, sagte Brown.
Ein Triumph der schottischen Nationalisten würde vermutlich nicht nur Cameron sein Amt kosten, sondern Schockwellen weit über die Insel hinaus senden. Unabhängigkeitsbewegungen in Spanien, Belgien und Italien hoffen auf neuen Wind unter den Flügeln, sollten sich in Schottland die Unabhängigkeitsbefürworter durchsetzen.
Fast jeder zweite Schotte will sich von London lossagen. Die Unentschlossenen herausgerechnet, kämen die Unabhängigkeitsbefürworter den jüngsten Umfragen zufolge auf 48 Prozent gegenüber 52 Prozent für das »Nein«-Lager. Die Abstände sind so knapp, dass sie innerhalb der statistischen Fehlerspanne liegen.
Die letzten Einzelergebnisse: Nach einer am Dienstagabend vom Meinungsinstitut ICM veröffentlichten Umfrage lehnen 45 Prozent die Unabhängigkeit ab, 41 Prozent würden dafür stimmen, 14 Prozent waren noch unentschieden. In einer von dem Institut Opinium veröffentlichten Umfrage lag das »Nein«-Lager mit 49 Prozent vorn, 45 Prozent befürworteten eine schottische Unabhängigkeit. In einer Umfrage für die Zeitung »Scottish Daily Mail« stand es 47,7 Prozent zu 44,1 Prozent.
Auf welcher Seite sie auch stehen: Die Schotten elektrisiert das Referendum. 97 Prozent der Wahlberechtigten haben sich für die Abstimmung registriert, ein Rekord. Die tatsächliche Beteiligung wird Experten zufolge bei rund 80 Prozent liegen. Die hohe Wahlbeteiligung ist zugleich Ausdruck einer tiefen Spaltung innerhalb Schottlands, ganze Familien und Freundeskreise haben sich über die Unabhängigkeitsfrage zerworfen. Die anglikanische Kirche von Schottland mahnte deshalb zu einem »Geist der Einheit«. Sie forderte die Menschen auf, einen »kühlen Kopf und ruhige Herzen« zu bewahren. AFP/nd
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.