Zentralorgan der Indianer

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.

Draußen toben die Massen und das Zentralorgan zelebriert die heile Welt der Diktatur; das Geschehen auf den Straßen der erst vierzig Jahre jungen, doch bedenklich ins Wanken geratenen Republik meist ignorierend, hin und wieder aber auch gespickt mit trotzig-subtilen Anspielungen auf selbiges. Es sind Anspielungen, die darauf schließen lassen, wie grotesk die Produktion des »Neuen Deutschland« in jenen Wochen gewesen sein muss. Eine Darstellung der turbulenten Tage zwischen dem 30.9. und dem 6.11.1989 im Spiegel dieser Zeitung bietet die Ausstellung »Aus dem Leben der Indianer«, die noch bis zum 10. Oktober im Foyer des »nd«-Hauses am Franz-Mehring-Platz in Berlin zu sehen ist.

Der Künstler Matthias Görnandt schlug damals täglich seine Tageszeitung auf und konnte einfach nicht fassen, wie konsequent die SED-Funktionäre glaubten, den Menschen eine Parallelwelt vorgaukeln zu können. Kurzerhand griff er zu Pinsel und Farbe und übermalte die Seiten, um seine Konsterniertheit beim Lesen zu überwinden. »Es war eine Möglichkeit«, erklärt er, »Frustration durch Spielerei und Lachen abzuwehren«. Diese kreative Arbeit wäre, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, durch die Staatsführung aber gewiss als Verunstaltung des Zentralorgans betrachtet und damit als Straftatbestand behandelt worden. Görnandt, der sich selbst nicht als Held verstanden wissen will, ließ die Werke tief in den Schubladen seiner Schränke verschwinden. Nun, 25 Jahre später, entdeckte er die Blätter zufällig wieder und zeigte sie seinem Freund Thomas Neumann, der begeistert darauf drängte, die Kunstwerke auszustellen.

Görnandt, vielen noch als Teil der DDR-Liedermachergruppe »Circus Lila« (»Teilen macht Spaß«) in Erinnerung, bietet in dieser nun verwirklichten Schau eine informative und heitere Auseinandersetzung mit den Staatseliten, die er sarkastisch als »Indianer« in Szene setzt. So prangt am 9. Oktober auf der Titelseite anlässlich der 40-Jahr-Feier der DDR: »Die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik wird auch in Zukunft das Werk des ganzen Volkes sein«. Selbstredend wirkt die Schlagzeile erst im Nachhinein wie eine unfreiwillig komische Vorhersage dessen, was wenige Wochen später mit dem Mauerfall seinen Lauf nehmen sollte.

Die »Indianer« machten indes erst einmal weiter wie gehabt. Die Inthronisierung von Egon Krenz als Honecker-Nachfolger illustriert Görnandt mit dem neuen Staatsratsvorsitzenden als Baby und dem herrlich süffisanten Kommentar »Geburt bei Gewitter - hoffnungslos«. Auch, als die Parteiplattform nicht mehr um die Proteste herum kam, regierte weiter der Realitätsverlust: »Leidenschaft und Siegeszuversicht für die Sache des Sozialismus« (16.10.), »Sozialismus in der DDR steht nicht zur Disposition« (19.10.), »Offene Debatte um aktuelle Fragen unserer Gesellschaft« (21./22.10.). Wenn Görnandt hier kommentiert, die »Indianer schauen nicht mehr auf die Straße - Die Fenster sind zu« oder das Foto eines Tankers zum Anlass nimmt, diesen zeichnerisch zum Kentern zu bringen (»SOS - Die Schieflage wird immer noch geschönt«), entsteht ein lebendiger Eindruck von der Seelenpein des Zeitung lesenden Künstlers vor einem Vierteljahrhundert.

Binnen kürzester Zeit nahm die Zeitung schließlich eine völlig neue Gestalt an, denn auch über die größte Protestaktion in der Geschichte des Landes musste das »ND« berichten: »Protestdemonstration von 500 000 im Zentrum Berlins - Bürger aus der Hauptstadt und aus Bezirken der Republik forderten dauerhafte Wende«, insbesondere bezüglich »der Verfassungsartikel 27 und 28 über das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit«. Nun dämmerte den »Indianern« allmählich, was die Stunde geschlagen hat. Das Ende der DDR kündigte sich an und mit ihm auch ein neues »nd«: »Das Volk feiert die Befreiung von den alten Indianern - Die neuen Indianer wachen auf«.

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