Am Ende der Straße die Sterne

Wolfgang Herrndorfs Nachlass: An diesem Freitag erscheint der unvollendete Roman »Bilder deiner großen Liebe«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Im 26. Kapitel läuft Isa, immer noch barfuß, vor dem Regen weg, der ohne Erbarmen auf ihren ungeschützten Kopf niederprasselt, bald als dichter Hagel. Isas größte Sorge gilt dem Tagebuch, das sie bei sich trägt, seit sie vor Tagen?, Wochen?, Monaten? aus der Psychiatrie ausbrach, um scheinbar ziellos durch die Lande zu ziehen. Von ihrer Reise zu Fuß, von den wechselnden Landschaften und von den Menschen, die ihr darin begegnen, von den Sternen am Himmel, die wie sie selbst unterwegs sind, und von Isas Gedanken über das Leben, das Sterben, den Sinn und den Unsinn handeln die von Wolfgang Herrndorfs Freundin Kathrin Passig und seinem Lektor Marcus Gärtner posthum zusammengefügten Fragmente. An diesem Freitag erscheinen sie als »unvollendeter Roman«.

Von der Arbeit am »Isa-Roman« zwischen Gedächtnisausfällen, Suizidplanung und der nächsten Hirn-OP hatte Herrndorf gelegentlich in seinem Blog »Arbeit und Struktur« berichtet. Mal glaubte er daran, dass er dieses kleine Buch noch aus eigener Kraft würde zum Ende bringen können, dann wieder nicht. Gut ein Jahr, nachdem der Schriftsteller seinem unheilbaren Krebsleiden durch einen Kopfschuss ein Ende bereitete, kommt sein letztes Buch »Bilder deiner großen Liebe« nun also auf den Markt.

Herrndorfs Roman »Tschick« soll inzwischen zwei Millionen Mal verkauft worden sein. Die Theateradaptionen der Roadnovel über zwei 14-jährige Alltagsausreißer im geklauten Lada werden auf deutschen Bühnen öfter gespielt als jedes andere Stück. Im nächsten Sommer soll das Buch durch David Wnendt verfilmt werden. Wer »Tschick« kennt, kennt Isa. Es ist das kesse Mädchen von der Müllkippe, das den Jungen zeigt, wie man mit einem Gummischlauch Benzin aus fremden Autos abzapft.

Wie aus den editorischen Notizen zum Isa-Buch zu erfahren ist, entstand die Idee dazu im Juni 2011: »Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen«, notierte Herrndorf in seinem Blog, und: »Mach ich aber nicht. Mach ich nicht.« Im Herbst des Folgejahres hatte sich Herrndorf, dem die Schreibarbeit eine lebensverlängernde Maßnahme zwischen den immer dichter werdenden Rückschlägen war, aber längst in dieses Buch hineingewühlt, das ihm - episodenhaft angelegt - einen erreichbaren Horizont aufschloss. »›Isa bricht aus der Klapse aus und besucht Cantors Grab in Halle‹, so umreißt eine Mail aus der Zeit den Inhalt«, schreiben die Herausgeber im Nachwort.

Georg Cantor, der Mathematiker? Kommt im Buch gar nicht vor. Oder doch. 26. Kapitel, der Hagel, die baumlose Straße, die Lichter in der Ferne, dann der namenlose Ort. Die Weierstraßgasse (Karl Weierstraß, Koryphäe der Analysis, noch ein Mathematiker); für Isa kein Zufluchtsort: Die Häuschen hier »sind dunkel und spießig. Ich laufe zurück und biege in die Cantorstraße.« Da ist er, Cantor, der Begründer der Mengenlehre, der manisch-depressive Zahlenfanatiker mit Psychiatrieerfahrung, der Shakespeare-Verschwörungstheoretiker, das Unendlichkeitsgenie. Herrndorfs Mann, Isas Mann. Ein Name im Hagel. »An einem Pfosten hängen zwei Verkehrsschilder übereinander: Sackgasse, Einbahnstraße. Am Ende der Straße eine Leuchtreklame: HO EL. Das T flackert von Zeit zu Zeit auf.«

Ein filmreif verfallenes Hotel mit leerem Riesenparkplatz in der deutschen Provinz, an der Rezeption ein hinter der Zeitung vergilbender Alter. Bei allem Realismus in diesem herzklopfenden, irrwitzigen, antiromantisch metaphysischen, befreiend barrierelosen, erwachsenen Jugendbuch, es ist nicht zu übersehen: Dies ist die Pforte zur Hölle. Oder zum Himmel. Isa fragt den Portier nach einem Zimmer: »›Ist eins frei?‹ - ›Unendlich viele‹, sagt er. ›Wie lang willste denn bleiben?‹ - ›Unendlich lange.‹ - ›Verstanden.‹« Zimmernummer Acht, bloß eine Neunziggraddrehung bis zur Unendlichkeit.

»Die Dielen im Gang oben laufen parallel auf ein Fenster zu. Eine Topfpflanze, eine Straßenlaterne und Sterne.« Isas Sturz in Cantors Welt, Reflexionen über die Unendlichkeit der Sterne, die eigene Endlichkeit. Abzählbar oder überabzählbar? »Ich schreie und schreie, bis der Blick durch das Fenster zum Nachthimmel mich davon überzeugt, dass es doch überabzählbar viele sind, und zwar, weil alles andere nicht zum Aushalten wäre, und deshalb sind es überabzählbar unendlich viele Sterne über mir. Auf Beschluss der Herrscherin des Universums.«

Und das fasziniert am meisten an Isa, dieser furchtlosen Pippi Langstrumpf im tragischen Format: Ihr unbeirrbarer Wille, sich die Welt - wiedewiedewitt - zu machen, wie sie ihr gefällt. »Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.« Vom ersten Satz des Buches an weiß man, dass man nichts glauben darf, was diese Isa erzählt. Aber man glaubt ihr alles: die Geschichte des Vaters, der Isas Drang hinaus aus den Mauern fester Behausungen und hin zum freien Himmel einst weckte, ehe ein Meteorit ihn erschlug. Die Menstruationsdusche überm Sprenkler auf dem Fußballplatz. Den Binnenschiffer mit der moralischen Bankräubergeschichte. Das philosophische Gespräch mit dem taubstummen Kind. Den in Spanien zurückgelassenen Schäferhund, der aus schierer Treue Tausende Kilometer zurück bis nach Dortmund läuft. Den Besuch bei dem Schriftsteller mit dem Rasenmäher, der abgemagerten Frau und dem seit Langem verwaisten Kinderzimmer. Die Försterleiche im Wald, der Isa ohne Ekel die Waffe abnimmt. Den menschenfreundlichen Lkw-Fahrer mit den durstigen Schweinen an Bord, der sich bei Isas Anblick einen runterholt. Das Zusammentreffen mit den Jungs auf der Müllkippe - »Sie sehen aus wie Idioten. Ein Blonder und ein Russe.« -, das sowieso. Man weiß ja aus »Tschick«, dass das stimmt.

Ob es wirklich sein musste, dass noch Herrndorfs letzte Notizen zu einem Buch verflickt werden, diese Frage stellt sich nach der Lektüre nicht mehr. Es musste. Nicht, weil es Herrndorfs letzter Wille war. Schon gar nicht, weil sich damit Geld verdienen lässt (die Erlöse sollten am besten einer Stiftung gegen das Vergeuden von Lebenszeit durch Lohnarbeit oder einer ähnlichen gemeinnützigen Einrichtung zugute kommen!). Sondern, weil Wolfgang Herrndorf und seine Nachlassverwalter der Literatur ein außergewöhnliches Buch hinzugefügt haben, das Freude am Lesen macht und Mut zum Leben. Ein Buch, das wohl nur dieser Autor so leicht und derart schwer erdenken konnte.

Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman. Rowohlt Berlin, 142 S., geb., 16,95 €.

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