Der erste Gipfelsturm
Die Berliner IWF-Proteste im September 1988 waren nicht nur Vorbild »globalisierungskritischer« Mobilisierungen. Sie gaben auch einen Vorgeschmack auf ein geeintes Berlin.
In 250 Tagen beginnt der G 7-Gipfel in Bayern und die Vorbereitungen laufen auf allen Ebenen. Bekannt wurde dieser Tage etwa ein Teil der erwartbaren Kosten: Etwa 130 Millionen Euro sollen der Gipfel und seine Sicherung den Freistaat Bayern kosten. Wie viel der Bund zuschießen muss, ist wohl noch offen. Ebenso wie die Frage, in welchem Ausmaß es den sozialen Bewegungen gelingen wird, in die bergige Gegend um das Tagungshotel Schloss Elmau zu mobilisieren.
Zu demonstrieren wird es wohl genug geben im Juni 2015 - es ist etwa nicht ausgeschlossen, dass zu diesem Zeitpunkt das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU in die Nähe eines Abschlusses gerückt sein wird. In jedem Fall aber wird auf beiden Seiten eine Referenz durch die Köpfe schwirren: die militanten Proteste gegen das Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle vor 15 Jahren, die als Startschuss zu jenem »globalisierungskritischen« Protestzyklus gelten können, der zwar an Schwung eingebüßt hat, aber noch nicht vorüber ist.
Nur die Älteren dürften sich dagegen noch an die elf Jahre zuvor in West-Berlin stattgefundenen Massenkundgebungen gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank erinnern, die sich in diesen Tagen zum 26. Mal jähren und die wohl - wären nicht der Zusammenbruch des Warschauer Paktes, die deutsche Einigung, die nachfolgenden Pogrome, die Jugoslawienkriege etc. dazwischengekommen - die »globalisierungskritischen« Bewegungen der späten 1990er und frühen 2000er Jahre ein gutes Jahrzehnt früher angestoßen hätten: »Was kommt nach dem Kongress?«, ist damals in Berlin eine der zentralen Fragen schon in der langen Vorbereitungsphase. In einem Aufruf wird vom »Beginn einer neuen antiimperialistischen Bewegung« gesprochen, von der »Wiederherstellung einer radikalen linken Bewegung in der BRD/Westberlin«, schreibt damals das Autonomenblatt »Unzertrennlich«.
Unter dem Motto »IWF angreifen« mobilisieren damals zahlreiche linke Gruppen. Zwar hatte es in der Bundesrepublik schon 1985 anlässlich eines Weltwirtschaftsgipfels in Bonn Demonstrationen gegeben, aber rund um das IWF-Treffen in Berlin entwickelt sich ein breites Protestszenario, das vom Gegenkongress über Groß- und Spontandemonstrationen bis hin zu Spaßguerilla reicht und viele nach »Seattle« wieder populäre Protestformate vorexerziert.
Zum Beispiel die Herstellung eines Kompromisses zwischen »radikalen« und alternativen, kirchlichen und pazifistischen Gruppen bezüglich der Aktionsformen: Während etwa die Grünen nur einen Gegenkongress und eine Großdemonstration wollen, planen die Autonomen dezentrale Aktionen, um das Kongressgeschehen handfest zu stören - sich in einem breiten Bündnis anhand solcher Fragen nicht in »gut« und »böse« auseinanderdividieren zu lassen, gehört seither zu den prekären Grundübungen solcher Mobilisierungen.
In Berlin funktioniert das seinerzeit recht gut - obwohl die Militanz des »radikalen« Flügels in der »Frontstadt« der 1980er Jahre ein Ausmaß hat, das später entgegen allen Schreckensmeldungen des Boulevards nie mehr erreicht wird. Schon in den Wochen vor Beginn der Tagung kommt es zu vielen kleineren Anschlägen - auf Siemens-Autos, Bankautomaten oder die Fassaden von Firmen, die mit dem Kongress zu tun haben.
Zimperlich ist die West-Berliner Polizei schon damals nicht - doch nach einem kurz vor Kongressbeginn durchgeführten RAF-Attentat auf den Bonner Staatssekretär und Tagungsorganisator Hans Tietmeyer spitzt sich die Situation beispiellos zu. Tietmeyer bleibt zwar unverletzt, doch rücken die Innenbehörden sogleich jeglichen IWF-Protest in die Nähe des Terrors. Mehr als 10 000 Polizeibeamte schützen die Tagung im Charlottenburger Kongresszentrum ICC - während die Bürger von einem Schreiben des damaligen Innensenators Wilhelm Kewenig (CDU) verschreckt werden, das scharfe Verhaltensregeln mitteilt und eine Abriegelung Kreuzbergs ankündigt; selbst die CDU-getreue »Morgenpost« kann das damals kaum fassen und glaubt zunächst an einen Politscherz der Autonomen.
Zwei Tage vor Beginn des Gipfels kommen dann 80 000 Menschen zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte West-Berlins. Die Polizei verbietet die Route über den Kurfürstendamm aus Angst vor Ausschreitungen, es bleibt aber friedlich. In der Hochschule der Künste veranstaltet der BUND derweil einen Ökokongress, in der Technischen Universität findet der »Internationale Gegenkongress« statt, bei dem die bedingungslose Streichung aller Schulden der Entwicklungsländer gefordert wird und dem Fidel Castro eine Grußbotschaft schickt. Statt der erwarteten 800 Teilnehmer kommen 3000, die Räume platzen aus den Nähten. Es gibt »antiimperialistische Stadtrundfahrten«, bei denen es u. a. an den Sitzen von Siemens und Philipps vorbeigeht, die damals als Symbole für die Ausbeutung in der Dritten Welt gelten. Und während der gesamten Kongresswoche erscheint täglich in einer Auflage von 50 000 Stück die Massenzeitung »Zahltag«, in der über Aktionen, Termine und Organisatorisches sowie über Verschuldung und Verelendung berichtet wird.
Vor den Hotels der Kongressgäste sammeln sich abends »Gutenacht-Chöre«, die die IWFler vom Schlafen abhalten sollen; für Aufsehen sorgen auch die Aktionen der Künstlerinitiative »Büro für ungewöhnliche Maßnahmen«, die mehrere Tage das Areal um die Gedächtniskirche im Herzen West-Berlins »bespielt«. Der Breitscheidplatz wird in einer dreitägigen Lichter- und Trommelsession zu einem Hauptanlaufpunkt der Proteste. Diese Aktionen sind zwar nicht genehmigt, finden aber statt - und werden Ausgangspunkt für Spontandemonstrationen auf dem Kudamm. Dabei kommt es u. a. zu einem Polizeikessel, in dem 2000 Personen festgehalten werden; ein Demonstrant wird durch einen Stockstoß ins Auge schwer verletzt. Das große Thema während des IWF-Kongresses ist in West-Berlin entsprechend Polizeibrutalität - nicht nur in der »Szene«, sondern auch in der West-Berliner Presse.
600 Personen nimmt die Polizei in der Kongresswoche fest - nicht nur bei Demos, sondern im ganzen Stadtgebiet. Wer in diesen Tagen nach West-Berlin reist und »links« aussieht, wird an den Grenzübergängen langwierigen Durchsuchungsprozeduren unterworfen. Im Verlauf der Woche gibt es außerdem zahlreiche Verletzte. Immer wieder kesselt die Polizei IWF-Gegner ein. Am Ende der Kongresswoche trifft es am Breitscheidplatz dann auch etwa 30 Journalisten. Die Gewerkschaft »Rundfunk-Fernseh-Film-Union« fordert daraufhin Kewenigs Rücktritt, auch der Deutsche Journalisten Verband und die Chefredakteure von DPA, AP und Reuters fordern lückenlose Aufklärung. Der »Journalistenkessel« hat dann zwar ein Nachspiel, Kewenig darf aber bleiben.
Proteste während der IWF-Tagung gibt es aber nicht nur in West-Berlin, sondern auch im Ostteil der Stadt. Da in West-Berlin die Hotelbetten nicht ausreichen, werden nämlich etwa 1000 Kongressteilnehmer im Osten einquartiert - im »Grand Hotel«, im »Metropol« und im »Palasthotel«. Auch in der Hauptstadt der DDR laufen Basisgruppen Sturm gegen die Banker. Es gibt selbst organisierte Veranstaltungen, die sich unter anderem mit Verschuldung und »Dritter Welt« beschäftigten - aber auch fantasievolle Aktionen. So wird mit Daueranrufen in den Hotels versucht, deren Leitungen zu überlasten, eine Gruppe Banker wird nach dem offiziellen Besuch des Pergamonmuseums von Ost-Berliner Aktivisten mit Kleingeld beworfen - von einer Gruppierung um den Oppositionellen Silvio Meier, der drei Jahre später im U-Bahnhof Samariterstraße von Neonazis erstochen wird.
In der Sophienkirche im Bezirk Mitte gibt es am 25. September 1988 sogar einen IWF-kritischen »Gottesdienst«, bei dem Transparente mit dem West-Berliner Protestmotto »IWF und Weltbank organisieren die Armut der Völker« aufgehängt werden und entsprechende Flugblätter von der Empore flattern. Doch die offizielle DDR tut sich schwer mit diesem »Antiimperialismus« von unten. Im Interesse außenpolitischer Anerkennung und Normalisierung hütet man sich offenbar, die Bonner mit Querschüssen über die Mauer zu verärgern; wiewohl der »Antiimperialismus« Staatsraison ist, werden Aktionen in Ost-Berlin untersagt.
Zwar ist nichts über Repressalien gegen Beteiligte der dennoch stattfindenden Proteste bekannt, doch in den DDR-Medien findet sich damals kaum ein Wort über den Widerstand. »ND« etwa arbeitet die Tagung mit dürren Meldungen ab; erwähnt werden zwar der Gegenkongress mit seiner Forderung nach einem Schuldenerlass sowie der freundliche Gruß aus Havanna - dass es sich aber um eine Kritikveranstaltung handelt, ergibt sich eher zwischen den Zeilen. Die Demonstrationen werden so wenig erwähnt wie der jenseits der Mauer in diesen Tagen herrschende Ausnahmezustand.
Für die Politszene West-Berlins, die zu dieser Zeit vor allem in Kreuzberg sitzt, bedeuten die Proteste einen Ausbruch aus dem »Kiez«. Nach dem 1. Mai 1987, als Kreuzberg Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen wurde, und nach der erstmaligen Komplettabriegelung des Bezirks im Juni desselben Jahres während des Besuchs von US-Präsident Ronald Reagan in West-Berlin findet der Protest nun seinen Weg in die City. Das Szeneblatt »Interim« zieht am Ende ein sehr positives Resümee: »Wir haben es wahrscheinlich geschafft, dass ein Bild des Widerstands durch die Welt gegangen ist, und das hat eine Bedeutung, die wir auf keinen Fall unterschätzen dürfen«, schreiben dort anonyme Autoren in offenbar guter Hoffnung, dass andere auf die Anstrengungen der West-Berliner Szene aufbauen könnten.
Dass bereits ein Jahr später die Karten ganz anders verteilt sein würden und ein solches Weiterspinnen der Mobilisierung erst über ein Jahrzehnt später - und wohl in Unkenntnis des Septembers 1988 - auf der anderen Seite der Welt erfolgen würde, ahnte noch niemand. Auch nicht die West-Berliner »Autonomen«.
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