Künstler, Krisen, Katastrophen

»100 Jahre Krise« - In Trier inszeniert Roman Schmitz eine Sensationsrevue nach Louis Scheuer

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 6 Min.
Leonardo DiCaprio gestikuliert und brüllt. Doch bleibt er dabei stumm. Zu hören ist an diesem Spätsommerabend im Brunnenhof nur der gemischte Chor aus dem Moseldorf Lorscheidt mit dem bekanntesten Hit der Deutschpop-Kapelle »Juli«.

Leonardo DiCaprio gestikuliert und brüllt. Doch bleibt er dabei stumm. Zu hören ist an diesem Spätsommerabend im Brunnenhof nur der gemischte Chor aus dem Moseldorf Lorscheidt mit dem bekanntesten Hit der Deutschpop-Kapelle »Juli«: »Das ist die perfekte Welle, das ist der perfekte Tag. Lass dich einfach von ihr tragen, denk am besten gar nicht nach.« Während die Sängergruppe auf der Hochterrasse vor den in warmes Licht getauchten Fassaden das Lied andächtig vorträgt, wirbelt unten der Hollywoodstar in seiner orgiastischen Rolle des betrügerischen Börsenmaklers Jordan Belfort (»Wolf of Wall Street«) über zwei Leinwände. Von rechts erstrahlt der altertümliche Glanz der hell beleuchteten Porta Nigra, derweil geschäftige Risikomanager zu sehen sind, wie sie finanzkrisengeplagt hektische Anrufe tätigen. In schneeweißen Lettern prangt zwischen beiden Ebenen auf den dunklen Mauern ein den Odem der Apokalypse versprühender Begriff: »Klimakatastrophe«.

Stopp! Jetzt muss Louis Scheuer erstmal telefonieren. Das läuft ja alles aus dem Ruder! Der jüdische Komponist ist nach achtzig Jahren wieder in Trier, um in seiner Heimatstadt eine neue Revue zu »100 Jahren Krise« zu proben, die dann in Berlin, Paris, New York durch die Decke gehen soll. Eigentlich stellt sich Scheuer ein schillerndes Massenspektakel für die einfachen Leute vor. Nun aber droht alles überfrachtet zu werden mit dem, was Vitali Klitschko in seiner TV-Werbung für einen Zuckersnack als »schwääre Kost« bezeichnet.

Unruhig in seinem Sessel am Bühnenrand wackelnd, greift Scheuer zum Hörer des knallig roten Fernsprechapparates: »Guten Tach, Frau Piscator, ist der Erwin zu Hause? Ja, ich warte ... Erwin! Hömma, wie hast du denn damals die ganzen Arbeiter ins Theater bekommen? Aha, ja. Ach, so einfach war das? Agit, was? Ah, Agitprop! Verstehe. Die aufgestauten Aggressionen in klare Bilder übersetzen, um klassenkämpferische Impulse zu erzeugen? Den Rausch ästhetischer Sensation in eine politische Richtung lenken? Hömma Erwin, du hast mir sehr geholfen, danke. Wiederhören!«

Und weiter geht’s, diesmal massentauglicher. Weiterhin firmiert das an die sinistre Wand projizierte Krisen-ABC als inhaltliche Klammer. Beim »Mauerfall« angekommen, erscheint David Hasselhoff. Genau, der »Knight Rider«! Flankiert von der betörenden Mädchentanzgarde der Tiller Girls, jault er sein schwer erträgliches »Looking For Freedom«, genau wie damals auf der Berliner Mauer in vor blinkenden Lichterketten nur so wimmelnder Lederjacke. Natürlich nicht ohne sein selbstbewusstes Statement von damals zu wiederholen: »Immerhin hat mein Song dazu beigetragen, dass die Mauer in Deutschland umgefallen ist«.

Heiterer Applaus. Jetzt, denkt sich Scheuer, kann ich auch ernsthafte Inhalte lancieren. Und so ertönen in einer Verschnaufpause neben Kohls dreisten Lügen von den »blühenden Landschaften« und Genschers »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...« weitere prägende Zitate zur sogenannten Deutschen Einheit: »Durch die Wiedervereinigung und die Spieler der DDR wird Deutschland auf Jahre unschlagbar sein!« (Franz Beckenbauer), »Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche« (Heiner Müller), »Mr. Gorbatschow, tear down this wall!« (Ronald Reagan), »Das Knirschen der Knochen, wenn die Konterrevolution ihre Kinder frisst, ist das einzige heitere Geräusch in all dem Höllengejammer« (Peter Hacks).

Was für eine Show! Dabei ist schon der Versuch, eine den heutigen Sehgewohnheiten zuwiderlaufende Revue (»Keine Handlung, hohe Kosten«, wie Scheuer prononciert) mit einem dezidiert politischen Thema in einer kapitalismuskritischen Umtrieben gänzlich unverdächtigen Kleinstadt wie Trier zu inszenieren, überaus mutig. Noch mutiger ist es, dies mit mehr als einhundert Laien umzusetzen. Regisseur Roman Schmitz, der auch die Hauptrolle spielt, arbeitet als persönlicher Referent des Intendanten Karsten Wiegand am Staatstheater Darmstadt. Er ist einer der wenigen Theater-Profis der »Gruppe International«, die diesen Abend stemmt.

Umso charmanter, wie Schmitz seine Inszenierung als große Generalprobe eines Comeback-Versuchs des Conférenciers Louis Scheuer anlegt. Tatsächlich wurde dieser nach mehreren Jahrzehnten in der Trierer Kulturszene während des NS-Regimes aus Trier vertrieben und kehrte nie mehr zurück. 1958 starb er 86-jährig in Frankfurt am Main. Aus diesem Vergessen holt die Gruppe um Schmitz ihn nun heraus, setzt ihm ein theatrales Denkmal. Und sie drückt sich dabei nicht um das heiße Eisen des in die krisenhaften jüngsten 100 Jahre fallenden größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte.

Denn auch beim »Faschismus« bleibt das ABC stehen. Eine Person mit Schirmmütze und Holzkiste (Birgit Weinmann) betritt die Bühne und kramt umständlich einen kleinen Vorstecher heraus. Zum Bohren braucht man den. Es bedarf nur weniger Andeutungen, um erahnen zu können, was der ursprüngliche Besitzer der Kiste - Onkel Nazi - damit angerichtet hat. Damals, zwischen 1933 und 1945, als er KZ-Aufseher war: »Kannste ne Sau mit abstechen. Will man gar nicht alles wissen, was er damit gemacht hat. Kann man auch Löcher in Leder damit stechen. In Lampenschirme aus Menschenhaut. Klebt bestimmt noch Blut dran!«

Wenn auf der Bühne später unter dem Stichwort »Kriegsziel« die Erklärung des ehemaligen Reichskanzlers Bethmann Hollweg verlesen wird, der 1914 von einer wirtschaftlichen Union Europas sprach, die »unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren« müsse, dann ist die Parallele zu Merkels heutiger Austeritätsmacht schnell erkannt. Wenn dann aber, unter schmetterndem Gesang des Pop-Titels »Africa« der Band »Toto«, die Darsteller grinsend Kolonialwaren hereintragen, könnten manche Zuschauer den Vergleich zwischen dem kolonisierten Afrika und den dieser Tage vor allem durch Deutschland bettelarm gemachten Menschen in Südeuropa zu gewagt finden.

Als süffisante Zuspitzung eines wahren Kerns aber funktioniert es, und nicht zuletzt Scheuers barsche Entrüstung schwächt apodiktische Aussagen wie diese ab - freilich ohne sie für obsolet zu erklären. So lässt er gegen Ende die Sensationsrevue neu beginnen und spricht endlich aus, warum ihm Pompöses vor Agitation geht: »Mein Freund Siegfried Kracauer sagte immer: Die Revue steht im unauflöslichen Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen ihrer Zeit. Und genau deshalb entsprachen die Beine der Tiller Girls im 19. und 20. Jahrhundert den Händen der Arbeiterinnen in den Fabriken.«

Heute, da neoliberale Propaganda die Arbeiterklasse als nicht mehr existent begreift, seien »wir alle Tiller Girls. Wir sind Rentner, Dozentinnen und Studenten, Beamte, Landwirtinnen und KFZ-Mechaniker«, geeint durch die blanke Notwendigkeit, das eigene Überleben nur über den viel zu billigen Verkauf der eigenen Arbeitskraft an die Kapitalisten sichern zu können. »100 Jahre Krise«, so Scheuer, lasse sogar kurz eine Utopie aufblitzen: »Noch sind wir abgeschnitten von den Tiller Girls in den Fabriken in China, Bangladesch und Vietnam, von den Geschichten der Unterdrückten und Ausgebeuteten in Ost und West. Aber wenn wir uns 2114 zur Fortsetzung dieses Abends zu ›200 Jahre Krise‹ wiedersehen, wird das bestimmt anders sein«. In 100 Jahren zur befreiten Gesellschaft? Und das mit den Mitteln von Tanz, Spiel und Spaß? Welch realistischer Optimismus, der dieses glänzende Spektakel zu einem stimmigen Abend macht.

Nächste Vorstellungen: 2., 3. und 9. Oktober, jeweils 20 Uhr. www.museum-trier.de

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