Mit Mist gegen die Misere

Erwerbslose aus der ganzen Republik wollen am Donnerstag mit Aktionen auf ihre Probleme aufmerksam machen

  • Roland Bunzenthal
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wenn die deutschen Revolutionäre einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie zuvor eine Bahnsteigkarte.« So spottete einst Lenin über die ordnungsliebende Mentalität der Germanen selbst bei politischen Aktionen. Auch die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen ist keine Kaderschmiede leninistischer Prägung und ihre Forderungen sind eher bescheiden: ein Regelsatz, der den realen Lebenshaltungskosten entspricht. Eine faire, serviceorientierte Behandlung durch Vermittler und Betreuer sowie echte Unterstützung bei Jobsuche oder Weiterbildung. Das sind die Kernforderungen einer Protestwoche, die am 22. September begann und an diesem Donnerstag mit dem bundesweiten »Tag der Arbeitslosen« und Aktionen in über 30 Städten ihren Höhepunkt haben soll. Noch bis Ende Oktober soll die Kampagne weitergehen, denn Probleme, gegen die es sich zu protestieren lohnt, gibt es genug.

Für aktive Gruppen hat Chefkoordinator Martin Künkler konkrete Handlungsanleitungen parat: Die erwerbslosen Hartz-IV-Bezieher sollen zwar nicht die Jobcenter stürmen. Aber man könne es doch den Landwirten nachmachen, schlagen die Koordinierer vor: einen Misthaufen vor die Behörde abkippen, frei nach dem Motto »Die Missstände stinken zum Himmel.« Vorher jedoch, so der pragmatische Rat, »eine Abdeckplane unterlegen. Das erleichtert die Aufräumarbeiten.«

Daneben haben Künkler und Co. auch geruchsärmere Ideen für die Vermittlung ihrer Anliegen an Medienmacher und Politik. So könnten die Gruppen ihre Forderungen - in Anlehnung an Martin Luther - an die Tür des Jobcenters nageln. In Ermangelung von Holzpforten ein vermutlich eher schwieriges Unterfangen.

Insgesamt herrscht unter den Erwerbslosen Angst, die Angestellten zu verstimmen. Deshalb raten die Koordinierer den Gruppen, im Vorfeld einer Aktion mit dem Personalrat des jeweiligen Jobcenters Kontakt aufzunehmen. »Dabei sollen sie erläutern, was der Charakter der Aktion ist.« Im Idealfall prangern Personalrat und Protestierer gemeinsam die Mängel des vor zehn Jahren geschaffenen Sozialgesetzbuches II an. Es soll der Eindruck vermieden werden, die Behördenmitarbeiter seien verantwortlich für die Misere namens Hartz IV.

Der Eindruck entsteht aber im Aufruf: »Die Qualität des Verwaltungshandelns der einzelnen Jobcenter ist sehr unterschiedlich, ebenso sind es die Missstände«, heißt es. Zu den »strukturellen Ursachen« der Probleme zählten »zu wenig Personal und mangelnde Ausbildung«.

Die Kampagne zielt auf die Schwachstellen der Reform ab: Die hohen Erfolgsquoten von Widersprüchen und Klagen Betroffener zeigten, so Künkler, dass die Jobcenter »vielfach rechtswidrig handeln«. Deshalb lautet das Motto des Aktionstages doppeldeutig »AufRECHT bestehen - keine Sonderrechte im Jobcenter«.

Ob die eine oder andere Gruppe den Misthaufenvorschlag aufgreift, wird sich zeigen. Für urbane Initiativen bleibt noch das Sit-in in der Fußgängerzone. Mit Mahnwachen, Montagsdemos, Flugblättern und einem Straßenquiz sind bislang rund 40 Gruppen - von Iserlohn bis Wedel - dem Aufruf gefolgt. Ob die Aktionen etwas bewirken, ist zweifelhaft. Doch ein Erfolg ist ihnen sicher: Die erste bundesweite Gemeinschaftsaktion gewerkschaftlicher mit den rund 600 »Sponti«-Erwerbslosengruppen dürfte das Problem der Unterversorgung bei Förderung und Vermittlung mehr ins Rampenlicht der Medien rücken. Um etwa originelle Bildmotive zu liefern, könnte eine fiktive Grenzanlage vor der Behörde aufgebaut werden mit dem Warnhinweis: »Vorsicht, Sie verlassen den rechtsstaatlichen Sektor!«

Die nach den aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit 4,34 Millionen Hartz-IV-Bezieher (die Hälfte davon bezieht die Sozialleistung aufstockend zum Job) wollen keine Bürger zweiter Klasse sein: Betroffene gibt es in allen Berufszweigen und Altersklassen. Sie vereint die Tatsache, dass sie seit langer Zeit zum Müßiggang verurteilt sind. Zusätzlich belastet sie eine Atmosphäre in den Jobcentern, die häufig als »bedrückend und entwürdigend« erlebt wird.

Ein weiterer Anlass für die Aktionen sind die geplanten Änderungen am Hartz-IV-System. Arbeitsministerin Andrea Nahles plant Vereinfachungen, die nicht überall auf Zustimmung stoßen. Redebedarf hat sie aber keinen: Die SPD-Politikerin lehnte gerade eine entsprechende Anfrage der Erwerbslosenverbände ab. »Die Ministerin bedauert, dass sie vor dem Hintergrund der umfangreichlichen Verpflichtungen, die sie wahrnehmen muss, leider einen Termin nicht ermöglichen kann«, hieß es in einem Schreiben aus ihrem Büro an das Erwerbslosen Forum Deutschland.

»Nicht mit Vertretern von Erwerbslosenverbänden sprechen zu wollen, betrachten wir als Affront gegen unsere tägliche Arbeit für und mit Betroffenen und Beweis dafür, dass demokratische und öffentliche Prozesse im Bereich der Sozialpolitik unerwünscht und lästig sind«, kritisierte Martin Behrsing, Sprecher des Forums. Man werde das Gesetzgebungsverfahren nun erst recht begleiten - wenn nötig auch mit Aktionen zivilen Ungehorsams, an denen man nicht vorbei komme.

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