«Wir wissen nicht, warum sie das machen»
Verschiedene Populationen des Weißen Hais haben abweichende Wandergewohnheiten. Die Gründe bleiben rätselhaft. Von Michael Lenz
Ich weiß, dass ich nichts weiß«, soll einst der griechische Philosoph Sokrates gesagt haben. So wie der antike Denker mag sich der neuseeländische Meeresbiologe und Haiexperte Malcolm Francis bei der Betrachtung der Resultate eines umfangreichen Haiforschungsprojektes gefühlt haben. 2005 hatten Francis und seine Kollegen vom Nationalen Institut für Wasser- und Atmosphärenforschung (NIWA) 95 Weiße Haie markiert, um die Bewegungen der großen Meeresräuber zu erforschen. Zehn Jahre später sind die Ergebnisse da, werfen aber mehr Fragen auf als sie beantworten.
Die Fische aus der Gattung Carcharodon wurden vor den neuseeländischen Chatham-Inseln an ihren markanten Rückenflossen mit elektronischen Chips versehen. Ursprünglich, so Francis, sollte herausgefunden werden, wie mobil die in fast allen Klimazonen vorkommenden Haie sind, wie weit und wohin sie schwimmen und welche Lebensräume sie bevorzugen. »Wir fanden heraus, dass die meisten während des Winters in tropische Gewässer schwimmen. Sie verlassen Neuseeland zwischen Mai und Juli und kommen zwischen Dezember und März zurück. Sie verbringen mehr Zeit außerhalb neuseeländischer Gewässer als in ihnen.« So orteten die Forscher einen Pip getauften 3,3 Meter langen Weißen Hai Anfang August an der australischen Küste vor Sydney. Die 2020 Kilometer von Neuseeland hatte Pip in 20 Tagen zurückgelegt.
Die Beobachtung von Pip und seinen Artgenossen zeigte auch, dass die neuseeländischen Weißen Haie auf ihrer Wanderung in einer bemerkenswert geraden Linie schwimmen. Auffällig ebenfalls, dass sie an den Nachmittagen einige Zeit an der Wasseroberfläche verbringen, aber auch 200 bis 800 Meter tief tauchen. Einer tauchte gar 1246 Meter tief.
Die Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel. »Wir wissen nicht, warum sie das machen. Wir nehmen an, sie sind auf Futtersuche. Wir wissen auch nicht, wie sie navigieren und warum sie in einer geraden Linie schwimmen. Unsere Arbeit hat eine Serie weiterer Fragen aufgeworfen«, gesteht Francis. Kaum mehr fanden die Biologen darüber heraus, was die Haie tun, wenn sie sich nahe am neuseeländischen Festland aufhalten. Oder warum die Artgenossen, die vor der südaustralischen Küste leben, lieber die Küste entlangschwimmen.
Dass Weiße Haie große Distanzen zurücklegen können, ist bekannt. »Aber jede Population hat andere Verhaltensmuster«, sagt Francis. »Unsere durchqueren den offenen Ozean und schwimmen hauptsächlich in Nord-Süd-Richtung zu Riffen und Inseln. Die kalifornisch-mexikanischen Haie reisen west-östlich und verbringen Monate im offenen Meer. Die australischen und südafrikanischen Haie wiederum schwimmen hauptsächlich in Nord-Süd-Richtung entlang der Küsten.«
Aber warum machen sie das? Zunächst vermuteten die neuseeländischen Forscher, dass »ihre« Haie den Buckelwalen zu deren Fortpflanzungsgewässern in den Tropen folgten. »Aber einige Haie machten sich erst auf in die Tropen, nachdem die Wale schon auf der Rückreise in die Antarktis waren. Zudem zeigten unsere Chips, dass sie in den Tropen ziemlich viel Zeit in Tiefen zwischen 100 und 400 Meter verbrachten. Das stimmt aber nicht mit ihrem Verhalten bei der Jagd auf Wale oder deren Junge überein.«
Unbestätigt ist auch die Vermutung von Francis und Kollegen, die Wanderlust der Weißen Haie aus Neuseeland könne mit Paarung und Fortpflanzung in Zusammenhang stehen. »Vielleicht hoffen geschlechtsreife männliche Haie, auf der Migrationsroute geschlechtsreife Weibchen zu finden«, sagt Francis. »Das erklärt aber nicht, warum noch nicht geschlechtsreife Haie beiderlei Geschlechts auch wandern.«
Pip hat inzwischen die Gewässer vor Sydney nordwärts verlassen. Vermutlich genießt er inzwischen das warme, tropische Wasser am Großen Barrier-Riff. Der Weiße Hai, der am 9. September am Strand von Byron Bay einen 50 Jahre alten Mann angegriffen und getötet hatte, war offenbar jedoch nicht Pip.
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