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Eine üppige Werkzeugkiste
Das philosophische Œuvre des Antonio Gramsci ist unabgegolten
»Wenn ich Dich wieder in den Armen halte, werde ich von meinen Gefühlen so überwältigt sein, dass es weh tun wird. Liebe Julka, Du bist mein ganzes Leben. Bevor ich Dich liebte, habe ich nicht gewusst, was Leben bedeutet: etwas Großes und Schönes, das jeden Augenblick und jede Regung des Daseins erfüllt.« Dies schrieb Antonio Gramsci aus Wien an seine Frau Julia Schucht, die er in Moskau, als Vertreter der italienischen Kommunisten in der Komintern, kennengelernt hatte. Nur als Gedankenexperiment: Wäre es vorstellbar, dass ein Faschist solch zärtliche Zeilen formuliert? Wohl kaum.
Die Bedingungen sind günstig, sich mit Leben und Werk des italienischen Marxisten bekannt zu machen. Die »Gefängnishefte«, sein theoretisches Hauptwerk, sind, dem Argument-Verlag sei Dank, schon seit zwei Jahren in einer Taschenbuchausgabe erhältlich - und nun auch Einführungsband in diese. Vor kurzem legte zudem Rotbuch eine lange vergriffene Biografie neu auf.
Die in faschistischer Haft gefüllten Hefte sind bei all ihrem theoretischen Reichtum fragmentarischen Charakters, was dem Leser eine systematische Erarbeitung von Gramscis zentralen Begriffen erschwert. Der von Florian Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann und Anne Steckner herausgegebene Band schafft hier Abhilfe.
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* Florian Becker u. a.: Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängnishefte. Argument. 334 S., br., 17 €.
Giuseppe Fiori: Das Leben des Antonio Gramsci. Eine Biographie. Rotbuch. 400 S., geb., 24,99 €.
Die Herausgeber haben das Buch in zwölf thematische Abschnitte gegliedert, die je einem theoretischen Schwerpunkt gewidmet sind, z. B. »Integraler Staat« oder »Marxismus als Philosophie der Praxis«. Jedem dieser Abschnitte ist eine knappe, aber präzise Einleitung vorangestellt, ehe Originaltexte folgen. Dies ermöglicht mehr als nur einen ersten Überblick über die zentralen Konzepte des italienischen Denkers; es erleichtert zugleich die Vertiefung des jeweiligen gedanklichen Gegenstandes.
Erfreulich ist auch die Neuauflage der Biografie von Giuseppe Fioris von 1966. Wolfgang Fritz Haug, in Deutschland einer der profiliertesten Gramsci-Kenner und zugleich Herausgeber der »Gefängnishefte«, weist zwar in seiner Einleitung darauf hin, dass vor allem die Stellen, die die späteren Lebensjahre des Protagonisten behandeln, nicht den aktuellen Forschungsstand widerspiegeln. Nichtsdestotrotz hat Fiori ein stimmiges, facettenreiches Bild von Gramsci gezeichnet, das den Menschen aus seinem Œuvre hervortreten lässt - etwa den unglücklich Liebenden, der unter der schwierigen Beziehung zu seiner Frau litt. Die Biografie erhellt zudem die komplexen politischen Entwicklungen in Italien zu Lebzeiten Gramscis. Der Fokus liegt erwartungsgemäß auf den Auseinandersetzungen mit Reaktion und Faschismus. Der theoretische Diskurs steht im Hintergrund, die »Gefängnishefte« tauchen erst auf den letzten achtzig Seiten auf; dies ist aber unproblematisch, da es sich hier nicht um eine Monografie, sondern Biografie handelt.
Bleibt die Frage, ob sich eine Beschäftigung mit einem Denker aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts heute noch lohnt. Jawohl! Gramscis philosophisches Vermächtnis ist unabgegolten. Das zeigt etwa der Begriff der »passiven Revolution«. Diesen erläutern die Herausgeber des Einführungsbandes als eine von den Herrschenden vorangetriebene gesellschaftliche Umwälzung in der Absicht, die »Interessen der Subalternen herrschaftsförmig zu integrieren, die untergeordneten Gruppen aber weiterhin in einer Position fern der Macht zu halten ... Das paradoxe Ziel: alles zu verändern, damit im Grunde alles so bleiben kann, wie es ist.«
Es liegt nahe, diesen Mechanismus auf den die Gegenwart nach wie vor bestimmenden Neoliberalismus zu beziehen, auch wenn manche Autoren, wie etwa der brasilianische Gramsci-Experte Carlos Nelson Coutinho, eine solche Übertragung für problematisch halten. Die Herausgeber dazu: »Zentrale Forderungen der 68er-, der Frauen-, der Öko- wie der Arbeiterbewegung wurden in neoliberale Politiken integriert, aktive Zustimmung organisiert, das kritische Potenzial dieser Bewegungen absorbiert und damit letztlich die Bewegungen selbst zersetzt.«
Konkret könnte man hier an die Umdeutung des Autonomiebegriffs denken: Die Forderung nach mehr Selbstbestimmung durch die rebellierenden 68er wurde vom Neoliberalismus zwar aufgenommen, aber in ein ökonomisches Programm übersetzt, das letztlich in der totalen Entsolidarisierung der Gesellschaft mündete und den Einzelnen zur »Ich-AG« erklärte.
Was die staatstheoretischen Überlegungen Gramscis angeht, die ja ein Zentrum seines gesamten Werkes ausmachen, so ließe sich in Hinblick auf jüngere Arbeiten von Michel Foucault oder auch Antonio Negri und Michael Hardt argumentieren, dass jene angesichts der tiefgreifenden Transformationen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten kaum mehr für die Gegenwart Gültigkeit haben. Eine solche Position ist aber keineswegs unbestreitbar. Und selbst wenn man dieser Argumentation folgte, böte Gramsci immer noch eine üppige theoretische Werkzeugkiste, aus dem sich Impulse für aktuelle Diskussionen sowohl in akademischen als auch politischen Zusammenhängen gewinnen lassen.
Übrigens hat Negri selbst erst kürzlich das Desiderat benannt, sich Gramscis Konzeptionen im Lichte jüngerer Ansätze neu zu erarbeiten. Gewiss nicht der schlechteste Vorschlag.
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