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Schafft der Wind mehr als der Sturm auf den Winterpalast?
Jeremy Rifkin ist überzeugt, dass der Kapitalismus im Niedergang begriffen ist
Jeremy Rifkin ist überzeugt, dass die Durchsetzung von Sonnenenergie, die Produktion über 3-D-Druck und der Übergang zu einer neuen internationalen Allmende, das er als Umstieg von privatem Eigentum zum Zugang aller zu Eigentum und zu kollaborativem Gemeingut charakterisiert, das Ende des Kapitalismus bedeuten. In seinem neuen Buch »Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft« schreibt er gleich zum Beginn; »Ein neues Wirtschaftssystem - die kollaborativen Commons - betritt die ökonomische Weltbühne. Sie sind das erste neue ökonomische Paradigma seit dem Aufkommen von Kapitalismus und Sozialismus im frühen 19. Jahrhundert, das tatsächlich Wurzeln zu fassen vermag.«
Es ist kaum ein Vierteljahrhundert her, seit mit dem angeblichen Sieg des Kapitalismus über den sowjetischen und osteuropäischen Staatssozialismus »das Ende der Geschichte« beschworen wurde. Die Zweifel daran und die kritische Analyse des Kapitalismus durch Karl Marx sind längst wiederentdeckt. Dass nun jedoch auch ein prominenter US-amerikanischer Ökonom und Ökologe noch wesentlich weiter und auf eine neue Weise denkt, hat die Medien aufgerüttelt, auch wenn die »Süddeutsche Zeitung« Rifkin »Leichtfertigkeit« vorwirft und Linkspolitiker Andreas Wehr schon 2013 glaubte, ihn und weitere Intellektuelle samt ihrer Schriften in einen Papierkorb werfen zu können (»Der europäische Traum. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen«). Wehr bezichtigt Rifkin, »eine Mischung aus willkürlich zusammengesuchten Daten und Belegen, bloßen Vermutungen und falsch bewerteten Fakten« zusammenzustellen.
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* Jeremy Rifkin: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Campus. 525 S., geb., 27 €.
Harald Staun war in seiner Rezension in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« wesentlich nachdenklicher, als er fragte, ob Rifkins Verkündigung des Niedergangs des Kapitalismus wirklich nur eine naive Utopie sei, und zurück fragte: »Aber ist es überhaupt eine?« Auch Thorsten Giersch meinte in seiner Zusammenfassung des Buches im »Handelsblatt« zu Recht: »Rifkin bietet großartige Ideen, so dass sich am Ende der lohnenswerten Lektüre nur die Frage stellt, wie man sie in den kommenden Jahrzehnten umsetzt. Aber auch das dürfte so manchem Leser angesichts Schuldenkrise, Klimadebakel und der Baisse an den Aktienmärkten schon richtig gut tun.«
Dem möchte ich mich anschließen und werben, Rifkins Buch zu lesen, auch kritisch zu befragen, vor allem es zu erörtern und in gesellschafts- und kapitalismuskritische sowie alternative Überlegungen intensiv und praktisch einzubeziehen. Rifkin selbst ist durchaus zurückhaltend in manchen Einschätzungen und gesteht gelegentlich, einige Entwicklungen nicht oder noch nicht bewerten zu können: »Uns dämmert eine ganz neue Realität, die zu erfassen uns noch schwerfällt.« Für mich gilt dies ohnehin.
Ich muss zugeben, dass vieles in Rifkins Buch, insbesondere hinsichtlich der technischen, wirtschaftlichen, kulturellen und globalen gesellschaftlichen Fragen, mir geradezu neu war. Ich fühle mich nicht so erhaben wie manche schnell schreibende und schnell urteilende Feuilletonisten, einschätzen zu können, ob alle Beobachtungen und Schlussfolgerungen Rifkins über die »Dritte Industrielle Revolution« zutreffen oder zutreffen werden, auch nicht, ob das bereits in den nächsten zwei, drei Jahrzehnten der Fall sein wird. Der Autor selbst verweist auf die heftigen Widerstände, die den von ihm skizzierten, sich bereits im Heute entwickelnden neuen gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen entgegen stehen: »Der Weg zum ökonomischen Überfluss ist freilich mit Hindernissen gepflastert, die die Heraufkunft des kollaborativen Zeitalters nicht nur hinauszögern, sondern auch zum Entgleisen bringen können.«
Eine einfache Lektüre ist dieses Buch in keiner Weise. Die Umwälzungen, die Rifkin analysiert, beschreibt und belegt, umfassen vielfältige technische Veränderungen, die nach seiner Meinung bereits radikal und mit exponentialem Tempo (jeweils jährlich mit verdoppeltem Zuwachs) voranschreiten: beim ökologischen Energieverbrauch, dezentralem, individuellem und partizipativem Zugang zu Daten, Bildung, Ausbildung, Studium, quelloffener 3-D-Druck-Produktion u. a. Ob letzteres auch die Waffenproduktion umfassen wird, behandelt er leider nicht, obwohl er sie als »die Do-it-yourself-Infrastruktur« der »Dritten Industriellen Revolution« bezeichnet. Wünschenswert ist es jedenfalls nicht, wenn jeder seine eigene Waffe herstellt.
Gewünscht hätte ich mir, dass Rifkin wesentlich kritischer auch auf andere Gefahren eingegangen wäre. Er spricht zwar Fragen des Urheberschutzes sowie die enorm gewachsenen Möglichkeiten staatlichen und privaten Missbrauchs von Daten an, beantwortet sie jedoch nicht. Dennoch, es ist gerade auch für linke Bewegungen und Parteien dringend erforderlich, sich mit all diesen Entwicklungen zu befassen sowie linke Antworten und Schlussfolgerungen zu finden. Rifkin lesen, ist der erste Schritt, und mit ihm oder über ihn hinaus weiterdenken, sollte der nächste sein.
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