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Und du, wozu bist du imstande?
Astrid Dehe und Achim Engstler gehen der Geschichte von Eichmanns jungem Henker nach
Shalom Nagar trug die Kippa, er hatte Schläfenlöckchen, die Gottesfurcht zeigten. Zum Zeitpunkt des Eichmann-Prozesses war er 26 Jahre alt. Seitdem hat sich ein Schatten über sein Leben gelegt. Davon erzählt er in diesem Buch zwei jungen Freunden. Moshe und Ben hören ihm zu, Tag um Tag, Nacht für Nacht.
Astrid Dehe und Achim Engstler, die Autoren dieses Romans, haben die beiden Freunde erfunden, deren Schicksal von nun an nicht nur mit dem Shalom Nagars, sondern auch mit dem des Massenmörders verwoben war. Sie mussten sich auseinandersetzen mit Shaloms Berichten und Erinnerungen. Infolge dessen drängte es Mo-she, seinerseits zu erzählen und zu schreiben: »Über Eichmann. Über Eichmann und Nagar. Über Eichmann, Nagar und sich selbst.« Moshes Aufzeichnungen, in Schreibmaschinenschrift gedruckt, bilden eine zweite Ebene im Roman.
Nagar selbst ist keine Fiktion. Das Buch stützt sich auf Fakten, Originalzeugnisse, auf nüchternes Beschreiben und distanziertes Erzählen, es ist hochinteressant - und es wird einen auch nach der Lektüre nicht loslassen.
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* Astrid Dehe, Achim Engstler: Nagars Nacht. Roman. Steidl Verlag. 208 S., Leinen, 20 €.
Der Prozess gegen den Massenmörder begann am 11. April und endete am 15. Dezember 1961. Ein Jerusalemer Bezirksgericht verurteilte den Nazi-Verbrecher zum »Tod durch den Strang« für den millionenfachen Mord an Juden.
Ein Mörder am Steuerpult, der die ganze Zeit darauf beharrte, im juristischen Sinne unschuldig zu sein. Immer wieder betonte er, dass er von den getöteten Juden niemanden persönlich kannte oder ihm körperlich zu nahe getreten sei. Er habe lediglich Güterzüge zusammengestellt. »Ich bin ein Opfer meines Gehorsams! Wer einen Tiger reitet, kann nicht mehr absteigen!«
Der Eichmann-Prozess spaltete damals die Weltöffentlichkeit. Hannah Arendt nannte Eichmann in ihrer berühmten Reportage einen »Schreibtischtäter« und sprach von einem der »größten Verbrecher seiner Zeit«, zugleich ein »Hanswurst«, der um sein Leben zitterte. Sie prägte den Begriff von der »Banalität des Bösen«. Indes kein Geringerer als der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hatte sich für Eichmann eingesetzt. Denn das jüdische Recht kennt die Todesstrafe nicht. Adolf Eichmann ist der bisher einzige Mensch, der nach einem Gerichtsurteil der israelischen Justiz zum Tode verurteilt worden ist. Für ihn wurde eigens ein neues Gesetz verabschiedet. 15 Stunden dauerte die Verlesung des Urteils, nach dem 121. Sitzungstag des Gerichtes.
Shalom Nagar berichtete seinen Freunden Moshe und Ben, dass er seinerzeit mit dem Mörder in dessen Zelle gesteckt worden war. Es gab drei Wächter, die umschichtig Wache hielten, damit der Gefangene nicht etwa Selbstmord beging, einen in der Tag und Nach beleuchteten Zelle, einen im Vorraum, einen im Raum dahinter. Überallhin hatten die Wachhabenden den Gefangenen zu begleiten, sogar auf die Toilette. Eine gewisse Nähe war entstanden. Eine gewisse Vertrautheit sogar.
Shalom Nagar - sein Vorname bedeutet Frieden. Wäre er älter gewesen, von der Shoah irgendwie persönlich betroffen, wäre es anders gewesen. Aber er war im jemenitischen Sanaa geboren, hatte mit den europäischen Juden nicht viel zu tun. Er wusste wenig vom Holocaust, ihm fehlte der Zorn. Nachdem das Todesurteil verkündet war, wurde er von seinem Vorgesetzten bedrängt: »Shalom, wenn es so weit ist, bist du bereit, den Knopf zu drücken?« Er lehnte ab. Am Ende wurde gelost, nun half ihm kein Sträuben. »Das ist ein Befehl, Shalom! Das Los ist auf dich gefallen, du wirst es tun!«
Er ging spazieren mit seinem kleinen Sohn, da hielt ein Auto neben ihm, die Tür wurde geöffnet, der Kommandant zog ihn hinein, und sie fuhren los, zum Gefängnis. Am Abend sollte Eichmann gehängt werden. Alles ging schnell. Sie holten den Strick herunter und legten dem Verurteilten die Schlinge um den Hals. Nagar drückte den Knopf und die Falltür öffnete sich. Am 31. Mai 1962, kurz vor Mitternacht, wurde Adolf Eichmann in Israel hingerichtet.
Shalom Nagar wurde, jung wie er war, Israels einziger Henker. Später musste er sogar noch den Leichnam hochziehen, er war ganz nah an Eichmanns Kopf, und es war ihm, als spuckte der Tote zusammen mit dem Blut einen Schwall von Lauten in sein Gesicht. »Ein Fluch, ein Fluch dem Henker?« Der Tote? - »Eichmann ist noch da«, sagt Shalom Nagar, der inzwischen ein alter Mann geworden ist. »Eichmann wird ihn holen.«
Über Shalom Nagar hat es vor Jahren schon einmal einen Film gegeben, in dem er auch selbst als alter Mann zu sehen war: »The Hangman« - das Thema ging durch die Presse, hier wurde ein aufwühlendes Buch daraus, das Leser auch absichtsvoll immer wieder irritiert. Es steckt voller Details, die gerade diejenigen verstören, die im Frieden aufgewachsen sind. Gestellt werden Fragen nach Menschlichkeit und Gewissen. - Und du, wozu bist du imstande?
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