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Schnauze und Schlager
Wolfgang Kohlhaase folgt dem Leben »um die Ecke in die Welt«
In der Geburtsstunde der DDR fiel er in Ohnmacht, vor Hunger. SED-Funktionär Hermann Axen sah, wie man ihn aus dem Saal trug und schüttelte den Kopf: »So achtet ihr auf eure Kader!« Da war Wolfgang Kohlhaase Reporter der Berliner Jugendzeitschrift »Start« (später »Junge Welt«) und sollte vom Akt der Staatsgründung berichten. Der Bericht fiel aus - gewiss wäre er nicht so scharf ausgefallen wie mancher Text des jungen Filmkritikers. Seine dichteste Rezension damals: »Die Hauptdarstellerin heißt Lotte Koch und filmt. Besser wäre, sie hieße Lotte Film und kochte.« Kohlhaase, wie Kerr.
»Um die Ecke in die Welt« heißt der von Günter Agde herausgegebene Band mit Texten Kohlhaases. Kritiken, Diskussionsbeiträge auf Filmkongressen, Interviews, Porträts, Lobreden, Nachrufe. Sogenannte Gelegenheitsarbeiten. Sie offenbaren Kohlhaases Sorgsamkeit und Fühlsamkeit, eine Gelegenheit nicht mit Beiläufigkeit zu verwechseln. Diese Autobiografie seines Denkens in öffentlichen Bekenntnissen erzählt von der hochintelligenten Bescheidenheit eines Schreibenden, dem auch Meinung stets Sprachbewusstsein bleibt, also: ihm Vorsicht bedeutet - vor Gedankengerümpel. Wort für Wort: eine große Strecke, die erst einmal gedacht sein will, ehe sie gesprochen wird. Grundhaltung eines Autors, der schon beizeiten mit Talent schreiben konnte und demnach nicht Kritiker bleiben musste.
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* Wolfgang Kohlhaase: Um die Ecke in die Welt. Über Filme und Freunde. Hg.: v. Günter Agde. Eulenspiegel Verlag. 320 S., geb., 19,99 €.
Texte über eigene und fremde Filme. Das »Zur Person«-Interview bei Günter Gaus. Ein Werkstattgespräch für »Sinn und Form«. Fast vierzig Kurzporträts: grandiose, galante, burschikos sichere Charakterisierungskunst - Apitz und Herzfelde, Rücker und Rehahn, Wicki und Hacks, Stötzer und Kant. Einmal steht da: »So war es. Er war dabei. Es hat ihn eher still gemacht.« Das ist in zwölf Worten eine Geschichte des Heldenmuts, des Stalinismus und des starken Charakters. Als Ulrich Plenzdorf das ARD-Drehbuch zu Strittmatters »Laden« schreibt, »geschah es ihm, dass er wieder an eine herrschende Meinung geriet, die kam von weit her und wusste besser, wie hier alles gewesen ist. Strittmatters Leben, wenn man es so sagen will, änderte sich für das Abendprogramm.« In zwei Sätzen die Geschichte der Wiedervereinigung.
So liest man sich weiter und weiter und tiefer und tiefer und erfährt den Menschen als Staunensgrund - »eine wundersame Rarität« nennt Herausgeber Agde diese werkbegleitende Prosa. Sein Leben in der DDR bezeichnete Kohlhaase als eine Verbindung aus Zufall und Entscheidung. Zu jung, um für den deutschen Krieg Verantwortung zu empfinden, alt genug, um sich zuständig zu fühlen für einen Frieden, der Welt werden möge. Die Drehbücher von »Alarm im Zirkus« (Regie: Gerhard Klein) bis »Ich war neunzehn« (Regie: Konrad Wolf), von »Berlin-Ecke Schönhauser« (Klein) bis »Mama, ich lebe« (Wolf), von »Eine Berliner Romanze« (Klein) bis »Die Stille nach dem Schuss« (Regie: Volker Schlöndorff): Filme, aus einer gütigen Angst heraus entworfen, dass bei der Erzählung vom Menschen auch nur ein einziges Gefühl nicht beachtet, gar verloren gehen könnte. Liebe spricht mit Schmerzensschnauze, Traurigkeit singt schräge lustige Schlager.
Dort, wo Leben stillsteht, geschieht am meisten. Kohlhaase beobachtet, er lässt leben, am liebsten an hinfälligsten Aufenthaltsorten, wo der »Sommer vorm Balkon« vier Jahreszeiten dauert. Erinnerung. »Der nackte Mann auf dem Sportplatz« mit einem so herzstark leisen, sanften Kurt Böwe - ein mutig stiller, ein unterschätzter Film von Konrad Wolf über die größte Menschenkraft: einfach das Seine zu tun, sich nicht dem Urteil der Welt beugen. Schwerste aller Künste. Kohlhaases Reflexionen beschwören sie geradezu. Die »Solo Sunny« der Renate Krößner: so viel schönes, gekerbtes, gedemütigtes und doch unbesiegliches Selbstbewusstsein einer Frau, jenseits von staatlich verordneter Sonnigkeit. Kleines Glück so erzählen, dass es wie Emanzipation klingt - und eine ist. Konrad Wolf - Kohlhaase hat ihm geholfen, wieder ein Deutscher zu werden. Er ist überhaupt ein Helfer. Fürs Selbsthelfertum beim Gründen von Gegenwelten.
Das Buch dokumentiert Arbeit an wahrhaftigen Erfindungen, die ihr Zentrum oft im sogenannten Durchschnittlichen haben. Erfahrung nicht als Besiegelung von Vergeblichkeit, denn die nächste Erfahrung könnte ja glückvoller ausgehen. Das jedenfalls nimmt der Mensch in Kohlhaases Kunst an, obwohl er’s vielleicht schon besser weiß. Aber Wissen schützt nicht vor Hoffnung. Wie sie nicht vor Schmerz schützt. »Lakonismus, der mitten ins Herz trifft. Kleine Leute und ihre großen Träume.« Andreas Dresen im Vorwort.
Kohlhaase hat für seine Arbeiten eine Ehrlichkeit zum Ausgangspunkt, die er als »Feind des Schweigens, der Verdrängung, der Entfremdung« bezeichnet. Davon erzählt dieses ermutigende Buch. Leben strahlt eine Atmosphäre aus, die dem gleicht, was der Schriftsteller über Jutta Hoffmann schrieb: »Es ist wahr, weil es schön ist. Oder ist es schön, weil es wahr ist?«
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