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Wenn das Geld müde wird
Alle Gedichte von Heiner Müller - die Texte aus dem Nachlass nehmen den größten Raum ein
Die Dichtung ist ein Parasit. Sie sitzt dem Dichter im Nacken. Sie speist sich von seiner Flucht aus dem Material. Sie nährt sich von dem, was ihn auffrisst. Heiner Müller zum Beispiel. Er wird nach dem Untergang der DDR zum großen lyrischen Monologisten, denn er steht einsam im Gelände, das ihm ein Leben lang Stück-Werk war: verloren der dramatische Stoff, der ihn jagte; getrocknet der blutige Schaum, der sich dem Jahrhundert zynisch als Krone aufgesetzt hatte; zu Ende das Duell der Blöcke; zerscherbt das gläserne Bild der historischen Alternative; ausgegangen also das Feuer, das im Theaterschreiber brannte - nun schlägt die lange, fast quälende Stunde der Gedichte.
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* Heiner Müller: Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag. 700 S., geb., 49,95 €.
Die Poesie lebt von der Leere, die einschlug. Es ist die Stunde kurz vor dem Schweigen, das »der Protagonist meiner Zukunft ist«. Zwar hatte er immer Verse geschrieben, und Verdichtung ist seit jeher seine Sprachform gewesen - nun aber wird er, der um des Lebens willen Schreibender bleiben muss, zum Autor ohne Anlass, zum Subjekt ohne Sinn, zur Existenz mit Endgefühlen. »Meine Scham braucht mein Gedicht.« Jetzt also die Scham. Früher die Lust am Widerspruch, das Begehren nach dem Paradox, die Freude an frivoler Verweigerung, der Ehrgeiz, so wild und frei zu schreiben, wie man träumt. Die Texte aus dem Nachlass nehmen den größten Raum in diesem Buch mit sämtlichen lyrischen Veröffentlichungen Müllers ein. »Warten auf der Gegenschräge«, herausgegeben, mit einem Nachwort versehen und bestechend tiefgründig kommentiert von Kristin Schulz.
Wer auf der Gegenschräge wartet, das sind die Toten. Die immer das letzte Wort haben. Die mehr Trost versprechen als Gott, weil ihre Ewigkeit nicht nur ein Gerücht ist. Heiner Müllers Gespräch mit den Toten ist auch das fortdauernde Gespräch mit der Idee, die Tote produziert, indem sie verwirklicht werden soll.
Müller sah sich eingespannt »zwischen Eiszeit und Kommunismus«; am Eis der Zeit erhitzte er seine kalte Poesie. Kommunismus als Traumspiel ohne Grenzen. Spiritueller Glanz überm Grau. Geistiger Wärmestrom gegen die praktische Raserei der konkurrierenden Zwecke. Kommunismus bleibt ihm untrennbar verbunden mit der Assoziation des radikalen gesellschaftlichen Bruchs, dem aber eine klare Glaubenstechnik zugrundeliegt. Missionsdynamik. Zieleinlauf. Bekehrungsdrang. Menschenbild statt Mensch.
Das Schlaraffenland einer überbordenden Produktivität, die für jeden genügend abwirft? Wie soll man im Endzustand einer Welt noch selbstreformatorische Kräfte entwickeln? Und Gelassenheit für die Trägheit des Menschen gegenüber der Gesellschaft? Wie geht das, ein geschichtlicher Abschluss, aber ohne Stillstand? Kants kategorischer Imperativ, am Ende doch nur wieder erfüllbar mit der antreibenden Pistole in der Hand? »Wie soll die Welt enden wenn das Geld müde wird«. Macht und Hoffnung, so spricht es aus diesen Gedichten, vertragen sich nur bedingt. Deshalb ist es immer gut, der Macht nicht jene Hoffnung zu lassen, sie dürfe ewig währen. Diesen Bremsvorgang nennt man Demokratie, aber die ist auch nur: »ein Pyrrhussieg der Utopie«.
Dies Werk kennt keine Kategorien wie Gut oder Böse, Falsch oder Richtig, Glück oder Unglück, Sieg oder Niederlage. Müller beschreibt, was jede Selbstwerdung unweigerlich mit sich bringt: Vereinsamung. Denn wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollektive Sprengstoff von Selbst-Verwirklichung. Das bleibt das Gespenstische an der Freiheit, die mit zwei entgegengesetzten Optionen das Bewusstsein bestürmt: frei sein von etwas - oder sich frei entscheiden für etwas. Hingehen oder weggehen. Alles lassen oder sich einlassen. Sich lösen, geht nur allein, Lösungen suchen, geht nur gemeinsam. Wieder sind wir beim Kommunismus? Vielleicht das Erstrebenswerte, aber doch nicht das wirklich Lebbare.
Dichter sind nicht zuständig fürs Lebbare, sondern fürs Unmögliche, das die Hirn- und Herzkammern sprengt. Müller lockt heraus ins Hölderlinsche Offene - wo die Wunden offen bleiben. »Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen!«
Er hat heitere Aufbaugedichte verfasst, er hat sogar Parteitagssätze Erich Honeckers oratorisch aufbereitet für Musik Paul Dessaus, er hat eine koreanische Kim-Ir-Sen-Hymne ins Deutsche übersetzt - Müller lobte Che Guevara, bastelte Aktivistenreime, verfasste unbekümmerte Liebeslieder und spröde Lehrgedichte; Kern seiner Lyrik aber ist der zerrende Konflikt zwischen Verwesung und Verwesentlichung, zwischen dem Nichtmehr einer untergegangenen Ordnung und dem Nochnicht einer aufgehenden Welt. Alles Schöne bleibt im Grunde die Kehrseite künftigen Verrats. Was Ausdruck in den Stücken fand, ist auch in der Lyrik früh und unabänderlich angelegt gewesen: das Drama zwischen Aufschwung und Misere.
Am Ende - er starb 1995 - die großartigen, antikisch befeuerten Langgedichte gegen die elende Welt des Kapitals, die Krankheit, der nahende Tod, die Liebe zum Kind, das dem Dichter anzeigt, wie heiter das Kostbarste daran geht, uns zu überleben. Der letzte Vers: »Unter dem Raum unter der Zeit/ Unter dem Raum der Geschichte/ Unter der Zeit des Menschen/ Ist der Raum ist die Zeit des Gedichts.« Weit weg von unserer nichtssagenden Art, die wie ein schneller Schritt klingt, der sich auf Wegen durch die Geschäftigkeiten vom Wesentlichen entfernt. Poesie hat unterm Lärm ihre Höhlen. Das Dunkel ein Gegenlicht.
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