Folge 66: Definitionsmacht (Substantiv, die)

Lexikon der Bewegungssprache

  • Lesedauer: 1 Min.

»Eine Vergewaltigung liegt vor, wenn die betroffene Person sie als solche empfindet.« Dies nennt die US-amerikanische Feministin Naomi Wolf ein berechtigtes und notwendiges Prinzip in therapeutischen Situationen, weil Opfern sexueller/sexualisierter Gewalt vor Gericht, in der Presse und in der Familie oft nicht geglaubt wird. Wolf warnt aber davor, dieses Prinzip auf andere Bereiche wie den politischen oder juristischen zu übertragen, weil dies unabsehbare Folgen für das Rechtssystem und zwischenmenschliche Beziehung habe.

Das Konzept Definitionsmacht gesteht allein der betroffenen Person zu, darüber zu entscheiden, ob sexuelle Gewalt vorlag oder nicht. In der Konsequenz wird Betroffenen unhinterfragbar geglaubt und sie werden dementsprechend unterstützt. Eine Folge kann der Ausschluss von Tatverdächtigen aus linken Strukturen sein - ohne, dass deren Schuld ermittelt worden wäre. Das Konzept führt deshalb zu heftigen Auseinandersetzungen in der radikalen Linken. Befürworter, die Wolfs Warnung übergehen, sähen es gerne in allen Bereichen umgesetzt und fordern von anderen, sich dazu zu bekennen. Kritiker verweisen auf die Gefahr, dass ein bloßes Bekenntnis zu einem vermeintlich klaren Begriff eine weiterführende Reflexion ersetzt und von der Gewalt gegen (mehrheitlich) Frauen ablenkt. Andere lehnen Definitionsmacht als autoritär und Ermächtigung zur Willkür ab. Sie setzen stattdessen allein auf Parteilichkeit mit der betroffenen Person. nis

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