Marine Le Pen zündelt in Calais
Mehr als 2000 Flüchtlinge wollen von der französischen Hafenstadt aus nach England
In der französischen Hafenstadt Calais hat sich die Zahl der «illegalen» Ausländer, die von hier aus per Fähre oder Eurotunnel nach Großbritannien gelangen wollen, bis Ende Oktober seit Jahresanfang vervierfacht. Das gilt auch für die Probleme.
Schätzungsweise 2200 bis 2300 Menschen aus Afrika und Asien streifen tagsüber durch die Stadt oder schlafen in improvisierten Zeltlagern in den Dünen. Nachts versuchen sie, einen der vielen hundert Lastwagen zu entern, die auf den Parkplätzen vor dem Fährhafen oder dem Tunnelterminal auf ihre Überfahrt oder auf den Pendelzug zur anderen Seite des Ärmelkanals warten. Dabei kommt es oft zu Handgreiflichkeiten mit den Fahrern, die nicht selten mit Knüppeln und Eisenstangen den Ansturm auf ihren Lkw abwehren. Wenn man bei der Kontrolle auf britischer Seite «blinde Passagiere» entdeckt, droht dem Fahrer eine empfindliche Geldstrafe.
Die Parteivorsitzende der rechtsextremen Front National (FN), Marine Le Pen, eilte Freitag nach Calais, um den durch die immer zahlreicheren ausländischen Flüchtlinge beunruhigten Einwohnern medienwirksam ihre Solidarität zu bekunden. Auf einem improvisierten Treffen vor dem Rathaus plädierte sie für eine ganz einfache Lösung: Alle «Illegalen», wie sie sie nennt, sollte man verhaften und unverzüglich in ihre Heimat abschieben. Damit spricht sie nicht wenigen Einwohnern von Calais aus der Seele. Aber sie trifft auch auf Widerspruch und Proteste. «Stopp dem Hass, Stopp der FN» stand auf Transparenten von Gegendemonstranten und «Solidarität mit den Flüchtlingen».
Marine Le Pen unternahm - begleitet von zahlreichen Journalisten - einen Rundgang über den Markt und besuchte Cafés und Geschäfte, um den Gewerbetreibenden ihr Mitgefühl über die vermeintlichen Belästigungen und Bedrohungen durch die «Illegalen» auszusprechen.
Streit und Schlägereien gibt es auch unter den Flüchtlingen«, meist um die aussichtsreichsten Positionen rund um den Fährhafen und das Eurotunnelterminal. In der vergangenen Woche wurden daraus mehrfach regelrechte Straßenschlachten, bei denen Migranten aus Äthiopien und Eritrea den Konflikt zwischen ihren Völkern und Ländern auf französischen Boden übertrugen.
Daraufhin wurde die Zahl der Einsatzpolizisten um 100 auf 450 aufgestockt. »Damit sind sie schnell bei der Hand, doch mit der Notlage der Flüchtlinge lässt man uns allein«, klagt Véronique von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Ein halbes Dutzend Vereine geben täglich Essen aus, verteilen Zelte und Decken, organisieren ärztliche Sprechstunden und bieten mit einem »Wassermobil« genannten Lkw die Möglichkeit zum Duschen an. Für November hat die Regierung die Eröffnung einer »Tagesstätte« auf einem nahen ehemaligen Militärstützpunkt zugesagt, wo sich die Flüchtlinge aufhalten, essen und waschen können. Doch nachts wird abgeschlossen, da bleiben die Geflüchteten weiterhin auf sich gestellt.
Immer öfter kommt es auch zu Reibereien mit Einwohnern und zu Ladendiebstählen. »Wir sind seit mehr als zehn Jahren an diese Flüchtlinge gewöhnt, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie«, meint der Wirt des Café de la Tour. »Calais war schon immer etwas trist, aber jetzt wirkt es auf Besucher regelrecht abschreckend.«
Die Hafenstadt gehört seit Jahren zu den wirtschaftlichen und sozialen »Problemfällen« im Norden Frankreichs. Die Arbeitslosenrate liegt hier bei 16 Prozent und damit 5,5 Prozentpunkte über dem Landesdurchschnitt. Der Eurotunnel und der Fährhafen sind die wichtigsten Arbeitgeber. Hier sind mehr als 8000 Menschen beschäftigt. Die Absperrungen und Kontrollen werden immer schärfer, so dass immer weniger Flüchtlinge durchkommen und sich ihre Zahl stetig vergrößert. Großbritannien, das Ziel der zumeist anglophonen Flüchtlinge, die oft auch auf dort schon lebende Verwandte und Freunde zählen können, hat kürzlich endlich seine Mitverantwortung für das Problem eingeräumt und 15 Millionen Euro Beihilfe zu den Absicherungsmaßnahmen in Calais zugesagt.
Auch hat London versprochen, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge die Informationen über die verschärften Bedingungen für die Aufnahme von Ausländern zu verstärken - und so dem Mythos vom »Eldorado England« den Boden zu entziehen. In Paris beginnt man ebenfalls umzudenken. Die Regierung sieht ein, dass die bürokratischen Hürden, die man seit Jahren aufgebaut hat, um die Zahl der Asylbewerber niedrig zu halten, letztlich kontraproduktiv sind. Daher wurde im September in Calais eine Außenstelle der Asylbehörde eingerichtet, die Informationsbroschüren und Formulare ausgegeben und bereits 400 Gesprächstermine für Antragsteller vergeben hat.
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