Halloween in der Party-Tram

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 2 Min.

Das Wort »Gentrifizierung« leitet sich von »gentry« ab, englisch für »niederer Adel«. Was die Verdrängung alteingesessener, zur Zahlung ständig steigender Mieten nicht befähigter Bevölkerungsschichten aber mit blauem Blut zu tun hat, erschließt sich nicht an allen Tagen gleichermaßen. Mir zum Beispiel ist es erst am späten Freitagabend aufgegangen, als ich den öffentlichen Personennahverkehr zwischen den Gentrifizierungsbezirken Prenzlauer Berg und Friedrichshain benutzen musste.

In der Straßenbahn, die seit einigen Jahren seltsamerweise einen U-Bahn-Namen trägt (»Metro 10«) und wegen des darin vornehmlich reisenden Feiervolks auch als »Party-Tram« bezeichnet wird, ließ sich an diesem Abend ein weithin bekannter blasser Fürst mit ehemaligem Wohnsitz in der Walachei transportieren, an dessen niederem Adel es nichts zu deuteln gibt. Ich war darüber zum einen erstaunt, weil ich vorher gar nicht wusste, dass Herr Dracula jetzt in der Nachbarschaft wohnt, zum anderen aber - obwohl mir Vorbehalte gegen Zugezogene, nun ja, fremd sind - tatsächlich etwas verärgert. Der dunkle Graf war nämlich nicht allein unterwegs. Stattdessen hatte er seine komplette bucklige, warzige, klapprige, blutige, reißzahnige, spitzhütige Verwandtschaft im Schlepptau. Die »Party-Tram« und ihre Insassen waren rippenrappelvoll.

Nicht dass ich nach einem anstrengenden Arbeitstag unbedingt sitzen muss in der Straßenbahn, aber eingequetscht zwischen all diesen furchteinflößende Kehllaute in meine Richtung fauchenden neuen Mitbürgern fühlte ich mich, unter uns gesagt, schon etwas verdrängt.

Endlich zu Hause, fiel mir dann fast der Unterkiefer auf die Schuhspitzen, als mir die Tür von gruseligen kleinen Wesen aufgeschlagen wurde, deren Orientierung an der neuen Dracula-Leitkultur schon am Kleidungsstil abzulesen war. Ohne Vorwarnung bohrten sie mir ihre ungeschnittenen Fingernägel in die Arme und schnappten mit ihren Mündern nach meinem Hals. Ich hatte immer gedacht, dass einem die eigenen Kinder erst in der Pubertät unheimlich werden. Nun weiß ich es besser: In Zeiten der Gentrifizierung reicht dazu ein einziger Tag, an dem man sie nicht rund um die Uhr erzieht.

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