Eine Werkstatt der Wunder

Der König ist tot: Was kommt nach Gabriel García Márquez?

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 8 Min.

Ein Palast, denken wir uns einen Palast: weit und leer, mit Gespenstern in den Ecken und den Schwertern siegreicher Schlachten, mit Fresken, die an die große Zeit des Reichs erinnern - und in dem Schloss der König, gebeugt, tastend, mit hallendem Schritt. Ein Mythos. Der König hat das Reich erschaffen, so kommt es uns vor, und er hat es gütig regiert. Und wie der Palast noch in uns wächst und im Palast das Bild des Königs, sind wir an Bücher erinnert, wie es sie nur in Lateinamerika gibt, Diktatorenromane von Asturias und Carpentier, von Roa Bastos und Vargas Llosa. (Auch er hat über Diktatoren geschrieben, unser König, Gabo genannt.) Die Großtaten des Königs liegen lange zurück, der Greis lebt vom Ruhm, gut lebt er davon, doch für das Reich hat dieser Ruhm etwas Drückendes.

Gabriel García Márquez, der Nobelpreisträger aus Kolumbien, Miterfinder des »magischen Realismus«, galt als Dichter-König, als Übervater der lateinamerikanischen Literatur. Seit Jahren klagten Kritiker, seine Omnipräsenz würde andere lähmen. Als er am 17. April 2014 gingen sozusagen die Flaggen auf Halbmast, dabei rief es leise »Le roi est mort, vive le roi«, indes: Da kommt kein neuer König ...

Wenn Lateinamerikas Literatur ein Palast ist, dann sicher kein Schloss aus Staub und Spinnweben, kein Ruheplatz zerbeulter Rüstungen, sondern ein helles Haus, ein Haus steter Überraschungen. Lieber Leser, Sie können Ihr ganzes Leserleben dransetzen, Sie werden doch nicht alle Räume sehen. Kommen Sie, schauen wir uns um, zuerst in der Ahnengalerie. Gehen wir zurück in die Fünfziger, was kannten wir von der Literatur Lateinamerikas? Ein paar Autoren, mehr im Osten als im Westen. Neruda und Mistral, Asturias und Amado. Juan Rulfo vielleicht, »Der Llano in Flammen«. Der Kontinent war Dritte Welt, ein unruhiger Ort, geprägt von Tyrannei, kein Ort der Kunst. Dann aber kamen die Sechziger und mit ihnen der »Boom« - eine Flut guter Romane, eine Schar herausragender Autoren.

Sie alle wurden damals bei uns bekannt, zusammen mit García Márquez: Mario Vargas Llosa aus Peru, Augusto Roa Bastos aus Paraguay. Die Argentinier Julio Cortázar und Jorge Luis Borges. Der Mexikaner Carlos Fuentes. Ein Jorge-Amado-Titel von 1969 wäre ein gutes Synonym für den Boom gewesen - »Werkstatt der Wunder«. Die meisten Autoren entstammen der Tradition der alten Zentren, doch sie haben diese Tradition umgeformt. Romane aus Lateinamerika sind tragisch, magisch, musikalisch, sind bunt wie der Urwald und abweisend wie die Steppen, sind mal voller Gewalt und mal pures Spiel.

Die Erzähler reisen gern, nach New York oder Miami, nach London, Madrid, Berlin. Wer will, kann sie treffen; nach jedem Gespräch fühlt man sich reicher.

*

München, Hotel »Vier Jahreszeiten«, ein Sommertag vor Jahren. In dem Fünf-Sterne-Haus kann man ihn glatt übersehen: Alfredo Bryce Echenique, Jahrgang 1939. Der Name verweist auf angelsächsisch-spanische Herkunft, Fotos betonen das indianische Erbe. Seine Merkmale: Bescheidenheit. Offenheit. Ironie. Er ist müde nach langer Lesereise, am Abend muss er schon wieder lesen, reden, doch er verschenkt sich: Er schenkt Zeit. »Ich bin in einer Familie der Großbourgeoisie zur Welt gekommen«, erzählt er, »als Sohn eines Bankiers. Ein Urgroßvater war Präsident von Peru, ein Ururgroßvater sogar Vizekönig.« Nach dem Willen des Vaters wurde Bryce Anwalt, dann, 1964, floh er nach Europa, auf einem Lastschiff.

1970 schrieb er »Eine Welt für Julius«, ein hinreißendes Buch über eine Kindheit in Lima. »Julius wurde in einem Palast an der Avenida Salaverry geboren ...« Langsam öffnet sich ein in Hecken gebettetes Tor, und sprachlos steht der Leser vor einem Reich, das die Herrschaften sonst verstecken. Zehn Jahre lang darf er Julius begleiten, hinein in seine Welt, die immer farbiger wird und immer schrecklicher mit jedem Tag. Ein Traum ist dieser Roman, mal Rausch, mal Alpdrücken, er sollte nie enden.

35 Jahre hat Bryce Echenique im Exil gelebt. 1999 kehrte er zurück nach Lima. Endgültig, wie er lautstark betonte. Denn menschliche Wärme finde man nur im Süden. - Heute klingt der Dichter anders. »Lima ist eine vulgäre, aggressive Stadt«, sagt er in München. »Niemand ist glücklich in Peru. Zum Glück gibt es jeden Tag einen Iberia-Flug von Lima nach Madrid.« Aber wollten Sie nicht für immer daheim bleiben? »Habe ich das gesagt?« Ja. »Ach«, erwidert Alfredo Bryce Echenique, ehe er aufs Zimmer geht, um etwas zu ruhen, damit er am Abend wieder erzählen kann, von Julius erzählen, »ach, wer sich nicht widerspricht, ist ein Idiot«.

*

Januar 2002. Ich soll Roberto Bolaño interviewen, Jahrgang 1953. Das Wunderkind der Szene. Fotos zeigen einen schmalen, nervösen Mann mit Kraushaar, großer Brille und Zigarette. Er ist ein Homme de lettres besonderer Art - scharfzüngig, mit skurrilem Humor und einer Biographie, als hätte er sie erfunden: aufgewachsen in Chile und Mexiko. Bekehrung zum Trotzkismus. 1973 Rückkehr nach Chile. Er erlebt den Putsch, kommt in Haft und wieder frei, verlässt das Land für immer. Über 25 Jahre lebt er in Spanien, zuletzt in einem Ort bei Barcelona.

1996 erscheint ein seltsames Opus: »Die Nazi-Literatur in Amerika«. Man stelle sich das vor - ein Lexikon rechtsradikaler Schriftsteller! Und jeder Eintrag fiktiv. »Wo von Nazis die Rede ist, kann man auch ›Stalinisten‹ lesen«, sagt Bolaño später. Fast jedes neue Buch sorgt fortan für Aufregung, auch fast jedes Interview.

Anfang 2002 will ich von Zürich nach Barcelona fliegen, dies wird ein spannendes Treffen!, doch Bolaño sagt ab. »Das Beste wäre ein Interview per Mail«, schreibt er, »wenn ich rede, bin ich ein Dummkopf, wenn ich schreibe, nicht gar so sehr.« Ich schicke Fragen auf die Reise und warte. Dann kommt die Antwort: ein Meisterstück, druckreif, ich muss nur kürzen.

Auszüge. Wovon er gelebt habe, dort in Spanien? »Ich war Müllfahrer, Nachtwächter, Hafenarbeiter. Über das Wort Exil kann ich wenig sagen. Es ist so unbeständig wie Gedächtnisschwund.« Er tut sich schwer mit Chile, das weiß ich - wegen Pinochet. Quält ihn die Herkunft? »Ich fühle mich nicht als Chilene, aber ich bin Chilene. Und dies zu wissen macht demütig. Ich wäre lieber Belgier und reich geworden. Oder ein Jude aus New York und intelligent.«

Haben Sie Vorbilder? »Neruda hat mir nie gefallen. Wer imstande war, Oden an Stalin zu verfassen und die Augen vor dem stalinistischen Horror zu verschließen, hatte meinen Respekt nicht verdient.« Und wie bewerten Sie Chiles bekannteste Autorin, Isabel Allende, und den Auflagenmillionär Paulo Coelho aus Brasilien? Bolaño, sehr knapp: »Auf einer Skala von 1 bis 10: 0,5 für Isabel Allende, -150 für Coelho.«

Gibt es einen erträumten Leser?, will ich noch wissen. Ja. »Den romantischen Leser, der den ›Werther‹ liest und dann Schluss macht, indem er sich eine Kugel in den Kopf schießt; oder den, der Kerouac liest und auf einer Landstraße im Regen endet. Aber das geht vielleicht zu weit. Ich möchte nicht, dass meine Leser leiden. Ich möchte nicht, dass sie jung sterben.«

»FIN!«, schreibt Bolaño noch. »Danke, eine Umarmung!« Gut ein Jahr später ist er tot.

*

Ein Novembertag in Mexiko, warm, schwül. Man müsste die Vulkane sehen - und sieht nur Smog. Verabredung in einer feinen Gegend, Chapultepec; die Herrscher des Landes wohnten um die Ecke. Sie lässt eine Stunde warten, dann schwebt sie aus dem Haus, einem Palast im Kleinen: eine Erfolgsautorin, geboren 1949 in Puebla. »Ich bin Angeles Mastretta, fast jeden Tag«, sagt sie, und die Selbstironie versöhnt mit der Warterei. »Manchmal bin ich jemand anderes, aber ich weiß nicht wer.«

Ihr Viertel ist eine Art Ghetto, abgeschieden von Lärm und Gewalt. »Ich gehe selten raus. Und nur mit Ohrstöpseln.« Lieber schickt sie Boten in die andere Welt, die Figuren ihrer Prosabände. In »Mexikanischer Tango«, Mastrettas Debüt von 1985, zog eine fesche Latina in den Kampf gegen die Machos. Bei dieser Konstellation ist die Erzählerin geblieben, spätere Titel verraten es. »Frauen mit großen Augen«. Oder »Ehemänner!«. Sie saufen, diese Typen, sie nerven, lügen und betrügen, fort mit ihnen.

Angeles Mastretta schreibt, wie sie spricht, locker, witzig. Manchmal klingt sie elegant, manchmal kitschig. Autoren wie sie, das könnte man sagen, sind Trittbrettfahrer des Booms der Sechziger, Epigonen des magischen Realismus. Doch ihre Bücher unterhalten.

Abschied im Palast: Naht die Apokalypse, von der viele reden, der Untergang des Molochs Mexiko? Mastretta winkt ab. »Als ich vor Jahrzehnten herkam, sagte alle Welt, in zwanzig Jahren würde die Stadt verschwunden sein, versunken in ihrem Dreck. Aber da ist sie immer noch! Wir werden die Apokalypse nicht erleben. Wir sind nicht wichtig genug.« Ein Tor geht auf, hinaus ins bunte Mexiko, in diese Werkstatt der Wunder. Das Zentrum ist nahe, der Zócalo mit seinem fröhlichen Lärm. Täglich wachsen hier neue Geschichten, wächst eine Literatur, von der wir, wir fernen Leser, noch gar nichts ahnen.

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