Der jugendliche Vortrupp der Siedler
In Israel hatten die sogenannten Hügeljugendlichen bislang eine Art Bio-Image, nun gelten sie als gewaltbereit
Am Abend ist die Stimmung unter den Jugendlichen feierlich. Ein Rabbi sei unterwegs, hat jemand erzählt. Ein paar der jungen Männer schließen noch schnell einen Generator an die Stromleitungen an, die sie tagsüber notdürftig in dem Schuppen angebracht haben. Wenig später geht das Licht an, nur ein paar Glühbirnen zwar, aber für die Anwesenden ist eine Mission erfüllt: Ein weiterer Siedlungsaußenposten ist im Westjordanland entstanden, irgendwo zwischen Nablus und Ramallah.
In Jerusalem und im Norden Israels hat es auch im Laufe des Tages wieder Ausschreitungen und Anschläge gegeben, während sich israelische und palästinensische Politiker gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben und die internationale Gemeinschaft immer vehementer weitere Friedensverhandlungen fordert. Und dass Israels Regierung darauf verzichtet, immer wieder weitere Bauprojekte in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland anzuordnen. »Solche Aktionen heizen die Flammen des Konflikts nur noch weiter an«, hatte Federica Mogherini, die neue Außenbeauftragte der Europäischen Union, Ende vergangener Woche gemahnt.
In dem Schuppen auf dem Hügel, der einmal zu einer Siedlung werden soll, zündet der 15-jährige Motti ein Streichholz an, entflammt damit die Kerzen auf dem Tisch vor ihm, während sich die anderen auf das Gebet vorbereiten: Früher war dieser Raum eine Scheune der eigentlichen Landbesitzer, einer palästinensischen Familie aus dem Dorf einige hundert Meter talabwärts. Nun ist der Schuppen eine Synagoge.
»Wir schreiben hier Geschichte«, sagt Motti leise, feierlich, als müsse er sich seine Rolle in dieser Mission immer von neuem vor Augen halten. »Die in Jerusalem können sagen, was sie wollen, uns bekommen sie hier nicht mehr weg. Dieses Land ist Israel, und es wird immer Israel bleiben. Dafür werden wir sorgen.«
Denn wie diese 15-, 16-, 17-, 18-Jährigen haben mehrere hundert Jugendliche auf mindestens 120 Hügeln im Westjordanland ihre eigenen Siedlungen gegründet. Und sie möchten nicht weniger, als ein Friedensabkommen mit den Palästinensern verhindern und dieses Land zu einem Teil Israels machen.
Oder anders gesagt: Es soll so schwer wie nur möglich gemacht werden, die Außenposten wieder aufzugeben. So zum Beispiel, indem man zuerst eine Synagoge errichtet, meist kaum als Gebäude erkennbar. »Es ist schwer für die Regierung, Synagogen zerstören zu lassen«, heißt es auf einer Webseite, die Bauanleitungen für ungenehmigte Siedlungen bereitstellt. Dort heißt es: »Und wenn die Soldaten kommen, schreit und weint, so laut ihr könnt, wenn Reporter dabei sind: Das ist euer Land, und ihr werdet aus eurer Heimat vertrieben. Wenn es vorbei ist, kommt einfach zurück. Das Militär kann nicht jeden Hügel bewachen.«
Und tatsächlich: Israels Behörden haben mit den »Hügeljugendlichen«, wie sie in Israel allgemein genannt werden, ihre Mühe. Bei der Polizei, dem Inlandsgeheimdienst Schin Beth, aber auch dem Jugendamt klagt man darüber, es fehle am politischen Willen, die Gesetze durchzusetzen. Denn die Politik, auch die politische Lobby der Siedler, sieht die Jugendlichen auf den Hügeln kritisch. Doch lange Zeit wurden die Kids auch hier eher als Begleiterscheinung denn als Problem betrachtet, obwohl Geheimdienstler seit Jahren angewiesen sind, ihre Aufklärungsarbeit unter jüdischen Radikalen auszuweiten. Stattdessen wurde die ohnehin schon kleine Abteilung beim Inlandsgeheimdienst Schin Beth weiter eingedampft, als in Israel 2013 eine Mitte-Rechts-Regierung an die Macht kam.
Man solle sich doch mal anschauen, was passiert ist, nachdem 2005 der Gaza-Streifen geräumt wurde, sagt der 18-jährige Ofer Cohen, einer der »Hügeljugendlichen«: »Die Leute haben sich abführen lassen wie Lämmer zur Schlachtbank, und als Lohn hat es die Raketen gegeben.« Was mit den Palästinensern geschehen soll, wenn das Westjordanland besiedelt ist? »Die sollen nach Jordanien oder Iran gehen, wenn sie nicht akzeptieren wollen, dass wir hier das Sagen haben«, sagt Ofer. Mottis Stimme wird plötzlich laut und hasserfüllt: »Wenn sie nicht freiwillig gehen, dann werden wir nachhelfen.«
Zum ersten Mal fällt der Blick auf die Pistolen, die in den Hosenbünden der beiden stecken. Auch viele der anderen Jugendlichen sind bewaffnet. »Wir müssen uns verteidigen«, sagt Motti. »Das hier ist Krieg.«
Manche Israelis aus dem Pro-Siedler-Lager vertreten die Ansicht, die »Hügeljugendlichen« seien Jugendliche, die ihrem Leben einen Sinn geben, während andere den ganzen Tag vor dem Computer sitzen. Immer wieder wird angedeutet, dass ein Großteil des biologisch angebauten Obstes und Gemüses aus den Hügelsiedlungen stammt.
Doch im Juni wurde sich Israels Gesellschaft abrupt bewusst, dass einige dieser Kids auch extrem radikalisiert sind. Und gewaltbereit. Nachdem drei israelische Jugendliche außerhalb der Siedlung Gusch Etzion entführt und später tot aufgefunden worden waren, reisten Dutzende Hügeljugendliche nach Jerusalem, taten sich dort mit ultrarechten Fußballfans zusammen und griffen wahllos Araber an. Kurz darauf wurde dann ein 16-jähriger Araber von Männern aus dem Umfeld der Hügeljugend entführt und im Jerusalemer Stadtwald verbrannt.
Im neuen Siedlungsaußenposten droht die Stimmung zu kippen, als die Sprache darauf kommt. Die Jugendlichen hatten sich zu dem Gespräch bereit erklärt, weil sie für ihre Sache werben wollten. Auf den heiklen Gewaltvorfall angesprochen sagen sie: Man wisse, dass man seit dem Juni ein Image-Problem und die Erzählung von den Ökokids, die das Land besiedeln, Risse bekommen habe. Man möchte die Risse kitten. Schon deshalb, weil nun auch viele der Eltern realisieren, worauf sich die eigenen Söhne und Töchter eingelassen haben. Im Internet wurde im Juli zum ersten Mal ein Forum für Eltern gegründet, die ihre Kinder zurückhaben wollen. Innerhalb von nur wenigen Tagen registrierten sich dort gut 50 Menschen.
Viele der Eltern gehören selbst der Siedlerbewegung an und unterstützten die Vorhaben ihrer Kinder lange. »Ich bin für die Ein-Staaten-Lösung«, schreibt ein Vater in einer Privatnachricht. Treffen möchte er sich nicht, seinen Klarnamen auch nicht preisgeben: »Ich bin dafür, dass Israel Judäa und Samaria annektiert, und ich war stolz, dass mein Sohn daran mitarbeiten wollte. Aber ich bin gegen Gewalt, und heute weiß ich, dass mein Sohn Gewalt angewendet hat.«
Im Zentrum der Debatte steht stets ein Rabbiner: der 70-jährige Jitzhak Ginsburg. Über manche der Jeschiwoth, der Religionsschulen, sind die Jugendlichen in Kontakt mit seinem Gedankengut gekommen. Nach der Räumung des Gaza-Streifens und durch die immer wiederkehrende Forderung nach Räumung weiterer Siedlungen - für viele Heranwachsende schlicht ihr Zuhause -, suchen viele Kinder und Jugendliche nach Gegenentwürfen. Und Ginsburg liefert sie: Es sei wichtig, geradezu notwendig, Vergeltung gegen jene zu üben, die das Siedlungsprojekt angreifen. Und Nichtjuden dürften im jüdischen Staat nur leben, wenn sie sich der jüdischen Herrschaft unterwerfen. In der Siedlerbewegung herrschte lange Zeit das Dogma »Wir sind nicht gleich, aber wir sind uns einig«: Man wischte drastische Meinungen beiseite, tat sie als religionswissenschaftliche Diskurse ohne Bedeutung für die Realität ab. Nun wacht man auf.
»Ratlos« sei er, schreibt der Vater. »Da waren zunächst die sogenannten Preisschild-Angriffe«. Dabei handelt es sich um eine Serie von Sachbeschädigungen gegen palästinensisches Eigentum und israelische Militäreinrichtungen, die immer dann verübt werden, wenn Palästinenser, Politiker oder Sicherheitskräfte gegen Siedlungen vorgehen. Der »Ausverkauf« Israels sei im vollen Gange, heißt es: Man zeige, wie hoch der Preis dafür ist. »Ich hatte meinem Sohn immer wieder gesagt, dass er dabei nicht mitmachen darf, und er hat es mir versprochen«, so der Vater. »Doch dann wurde mein Sohn bei den Ausschreitungen in Jerusalem festgenommen, weil er einen Araber zusammengeschlagen hat. Ich habe die Kontrolle an andere Leute verloren. Was ich ihm beigebracht habe, zählt für ihn nichts mehr.«
Nach Hause zu gehen, das können sich auch Motti, Ofer und die anderen Jugendlichen an diesem Abend nicht vorstellen: »Schau dir das an«, sagt Ofer und deutet in Richtung Tal, in Richtung der Lichter der Siedlungen, der palästinensischen Dörfer: »Wir erwecken dieses Land zum Leben.«
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