»Der Tod hat ein friedliches Gesicht«
Susanne Jung ist Bestatterin mit einem besonderen Service: Sie stellt Totenmasken her
Der Tod trägt an diesem Tag ein weißes Baumwollhemd. Schlafend, fast träumend sieht er aus. Gewissheit über seine Existenz erlangt man nur, lässt man den Blick hinab auf die Hände gleiten. Klassisch gefaltet über dem Becken zeigen schwarze Flecken, die sich von den Fingerkuppen bis zu den Fingerknöcheln ziehen, dass das Ende sich bereits langsam durch den Körper gearbeitet hat.
Susanne Jung trägt Alukoffer und einen schwarzen Pullover und beugt sich über Herrn K. Frau Jung hat ihre rote Brille in die grauen Haare geschoben, sie stülpt sich weiße Silikonhandschuhe über. Der Raum in dem sie steht: hellgelb gestrichen, Kerzen, ein Bild von einer Allee. Ein Raum der Trauer. Prüfend misst Frau Jung mit der Hand Herrn K.s Temperatur im Gesicht. Herr K. ist bereits sehr kalt und sieben Tage tot.
»Ihr erster Toter?« fragt Frau Jung, lässt den Alukoffer aufschnappen, legt eine Plastikbüchse Melkfett bereit. Der erste Tote. »Da haben sie Glück, der Mann sieht ja noch aus wie neu«, sagt Frau Jung und fettet langsam und sorgfältig Herrn Ks. Augenbrauen ein.
Dass der Tod noch kein bedrohliches Gesicht hat, liegt an der Kühlung, acht Grad, »wie im Kühlschrank«, und an den langen Wiederbelebungsmaßnahmen, durch die viel Blut in das Gesicht gepumpt wurde, erklärt Frau Jung. Dass Herr K. so kalt ist, könnte heute noch ein Problem für Frau Jung werden.
Vor einer Woche ist Herr K. auf der Straße zusammengebrochen, 35 Jahre lang hat ihn sein Körper durch die Welt getragen. »Bauchspeicheldrüsenkrebs«, sagt Frau Jung und stülpt eine Plastikfolie über das rotblonde Haar von Herrn K. »Damit das Silikon nicht hängen bleibt.« Herr K. und Frau Jung kannten sich im Leben nicht, im Tod kommen sie sich jetzt sehr nahe.
Frau Jung ist Totenmaskenmacherin und Bestatterin. Sie bildet ab, was der Tod vom Leben übrig lässt und bestattet den Körper. Rund 80 bis 100 Bestattungen organisiert sie im Jahr: Von der Abholung aus dem Krankenhaus, der Betreuung der Angehörigen, Aufbahrung, Abschiedsfeier bis zur Einäscherung. Sie ist selbstständig und arbeitet alleine.
Früher hat Frau Jung große Veranstaltungen organisiert, sogar OECD-Kongresse. Bestattungen sind für sie im Vergleich dazu eher kleinere Ereignisse. Früher hat Herr K. gefeiert, gegessen, gelebt. Jetzt liegt er in einem schmalen Holzsarg in Neukölln.
»Entschuldigen Sie«, sagt Frau Jung sanft zu Herrn K., dann drückt sie vorsichtig erst einen Wattebausch in Herrn K.s linkes, dann einen in sein rechtes Nasenloch. Langsam beginnt sie mit einer Spritzpistole orangefarbenes Silikon auf Herrn K.s Gesicht aufzutragen. Erst eine Schicht. Dann noch eine. Bald ist das Gesicht über und über mit Silikon bedeckt. Der halboffene Mund. Die Wimpern. Die geschlossenen Augen. Dem Toten wird sein Gesicht genommen.
Es gibt eine von Friedrich dem Großen, von Tutanchamun, von Lenin und selbst Rio Reisers letzter Blick ist auf ewig in eine Totenmaske gegossen. Im Altertum und in der Klassik war der Brauch, Gipsabdrücke vom Gesicht des Verstorbenen herzustellen, sehr üblich. In der modernen Zeit, in der der Tod Tabu und scheinbar ausgeklammert vom Leben ist, weiß kaum noch einer um die Möglichkeit, in einer Totenmaske den letzten Gesichtsausdruck auf ewig zu binden. Etwa vier bis fünf Masken sind es im Jahr, die Frau Jung herstellt. Diesmal hat die Maske die Mutter von Herrn K. in Auftrag gegeben.
Frau Jung arbeitet konzentriert und schnell, das Auftragen geht gut, zum Verstreichen benutzt sie einen feinen Pinsel. Dennoch ist sie unzufrieden. Herr K. ist zu kalt. Eine ganze Woche Kühlung machen es dem Silikon schwierig, auf dem kalten Gesicht zu trocknen.
»Helfen sie doch ein bisschen mit«, sagt Frau Jung liebevoll zu Herrn K. Respekt im Umgang mit den Toten ist ihr oberstes Gebot, das merkt man jedem ihrer Handgriffe an. Sie schiebt einen kleinen Gasofen auf Rollen näher an den Sarg, vielleicht wird das Silikon so schneller trocken, hofft sie.
Frau Jung ist seit 2004 Bestatterin. Als religiös bezeichnet sie sich nicht, als spirituell schon. »Wir wissen doch so wenig über nachtodliche Prozesse«, sagt Frau Jung nachdenklich. Der Tod ist für sie mehr als die schwarze Wolke, die die Gesellschaft so gerne verdrängt. Der Tod ist für sie Lehrer, der ihr selbst einen anderen Blick auf ihr Leben gibt; der den Blick auf das Wesentliche, weg von den Kleinigkeiten und Ärgernissen des Alltags lenkt. Frau Jung sagt, dass es viel über eine Gesellschaft aussagt, wie sie mit ihren Toten umgeht und trägt die letzte Schicht, diesmal aus Gips zum Verstärken des Silikonabdrucks, auf.
Nach fast zwei Stunden kommt die Stunde der Wahrheit. Für Frau Jung. Vorsichtig greift sie mit den Fingern unter die Maske, löst sie von Herrn K.s Gesicht. »Der Tod hat ein friedliches Gesicht«, sagt Frau Jung. Sie ist zufrieden. Mundwinkel, Nasenflügel, Augenhöhlen, alles perfekt abgebildet. Nächste Woche wird sie den Silikonabdruck zu einem Bronzegießer bringen, der den Abdruck mit Gips ausgießt und dann die endgültige Totenmaske fertigstellt. Frau Jung hat ihre Arbeit getan. Auch Herr K. hat seinen letzten Dienst auf dieser Erde beendet. Sein Gesicht sieht verändert aus, der Ausdruck um seine Mundwinkel und die Augen ist verschwunden. Der Tod hat ihm sein Gesicht genommen.
Frau Jung erzählt, dass sie es oft beobachtet, dass Verstorbene, bis sich die letzten Angehörigen verabschiedet haben, noch einen ganz besonderen Gesichtsausdruck haben, als ob sie sich noch nicht ganz von dieser Welt, ihrem Körper gelöst hätten.
»Wir wissen doch so wenig über nachtodliche Prozesse«, hat Frau Jung noch vor zwanzig Minuten gesagt. »Sehen Sie, Herr K. ist jetzt wirklich gegangen«, sagt Frau Jung. Der Raum liegt ganz still da, nur der kleine Rollofen knistert. Frau Jung schweigt. Herr K. schweigt. Totenruhe.
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