»Er hat uns alle überrascht ...«
Pfarrer Dieter Ziebarth über das Zeichen seines Amtsbruders Oskar Brüsewitz und ein schweres Erdbeben
Ziebarth: Ein liebenswerter, uneigennütziger, ungewöhnlicher und eigenwilliger Mensch. Er war weniger ein Mann des Wortes als der Tat, ein Mann spontaner Entschlüsse und unkonventioneller Einfälle.
Selbst seine Tochter Esther fragte einmal: »Vati, warum verkündest du auf so ungewöhnliche Weise Gottes Wort?«
Er hat uns alle oft überrascht.
Zum Beispiel mit einem großen Neon-Leuchtkreuz auf seiner Kirche in Rippicha. Oder einem Transparent »25 Jahre DDR - 2000 Jahre Kirche«.
Er hat sich inspirieren lassen durch die andere Seite.
Also SED-Propaganda kopiert.
Nicht kopiert, er hat geantwortet. Aber im selben Stil. Auf den Kombinaten leuchtete der große Rote Stern. Da hat er sich gesagt: »Warum soll von meiner Kirche kein großes Kreuz weithin leuchten?« Ich gestehe, im ersten Augenblick auch verwundert gewesen zu sein. Die zweite Reaktion war: »Ich wäre nicht drauf gekommen.« Und die dritte: »Warum eigentlich nicht?!«
Haben die Menschen ihn verstanden?
Ich denke ja. Er war viel unterwegs zu den Menschen, hat das gemacht, was ein Pfarrer machen sollte. Er hat sehr unkompliziert Zugang zu jedermann gefunden.
Stimmt es, dass er, wie im ND vom 31. August 1976 behauptet, während des Gottesdienstes Tiere durch die Kirche getrieben hat?
Er hat zu Pfingsten eine Taube auf den Altar gesetzt. Die Taube ist ein christliches Symbol. Das ist so ein Beispiel, wo ich mich fragte: »Warum bist du nicht darauf gekommen?« Auf Veranstaltungen für Kinder hat er Kaninchen als Preise verschenkt. Um eine Freude zu bereiten. Er hatte eine große Tierzucht, hat sich selbst als Bauer betätigt. Er stammte ja aus dem Memelgebiet.
Der ND-Artikel enthielt bösartige Unterstellungen, erarbeitet von Zersetzungsfachleuten der Stasi - mit dem Ergebnis, er habe »nicht alle fünf Sinne« beisammen. Es hat in der Tat im Volk viele Legenden über ihn gegeben. Weil er so ungewöhnlich war, war er natürlich ein Gesprächsthema vor allem auf dem Lande, wo fast nichts den ganzen Tag über passiert. Da wird natürlich noch einiges hinzu gedichtet. Von manchen auch in böser Absicht.
Pfarrer Brüsewitz war auch ein sensibler Seelsorger. Und ein tief frommer Mann.
Und nicht Schuster, wie der A.Z.-Artikel meinte.
Er war Schuhmacher und hatte den Meisterbrief. Nachdem er sich in der Kirchengemeinde von Weißensee, Kreis Sömmerda in Thüringen, so stark engagiert hatte, ist er zur theologischen Ausbildung geschickt worden. Er hat sich vor allem um Kinder und Jugendliche gekümmert, weil der Staat sich nicht ausreichend sorgte.
Aber hat sich der Staat DDR nicht gerade um Kinder und Jugendliche gekümmert?!
Auf dem Lande sah es anders aus. In Rippicha gab es keinen Spielplatz, er hat dafür gesorgt.
Sie haben der Familie die schlimme Nachricht überbracht ...
Sie hatten schon seinen Abschiedsbrief gelesen und daraus entnehmen können, dass etwas Schlimmes passiert. Er hat seiner Frau an diesem Tag Blumen geschenkt, was ungewöhnlich war. Er hat alles ganz genau geplant. Auch das Läuten der Kirchenglocken zu jener Zeit, da er seine Tat ausführte.
Das MfS glaubte, Sie wären es gewesen, der das Läuten initiierte.
Ich war von seiner Tat genauso überrascht wie alle anderen. Nein, er hatte sich zuvor erkundigt, zu welcher Stunde in Zeitz eine Beerdigung stattfindet und die Glocken geläutet werden.
Er verstieß gegen das christliche Verbot des Selbstmordes?
Die Bibel sagt, dass man das Leben sich nicht selbst gegeben hat und es sich nicht selbst nehmen darf.
Hätten Sie ihn abgehalten, wenn er Sie eingeweiht hätte?
Ja. Weil ich es mit meinem Glauben nicht vereinbaren, nicht gutheißen kann. Aber ich habe seine Tat zu respektieren. In meinen Augen hat Oskar Brüsewitz jedoch nicht Selbstmord begangen. Er wollte ein Zeichen setzen, es war eine politische Demonstration.
Er hatte Plakate dabei ...
Die sind ganz schnell beschlagnahmt worden. Seit der Öffnung der Archive Anfang der 90er Jahre wissen wir, was auf ihnen stand: Er klagte die Unterdrückung in Schulen an. Das war ja auch in all den 40 Jahren DDR der Hauptstreitpunkt zwischen Staat und Kirche. In den 50er Jahren gab es die Verfolgung der Jungen Gemeinden, in den 60ern die Auseinandersetzungen um Jugendweihe und Konfirmation, später kam die vormilitärische Ausbildung an den Schulen hinzu. Es gab immer eine Unwilligkeit des Staates, über diese Fragen mit der Kirche zu reden. Vielmehr hat man mit brachialer Gewalt versucht, der These vom gesetzmäßigen Absterben von Glauben und Religion nachzuhelfen. Das hat er intuitiv gemerkt. Dagegen richtete sich seine Kritik.
Wie würden Sie die gesellschaftlichen Wirkungen seiner Tat beschreiben: ein eher kleines oder größeres Erdbeben?
Es war ein sehr starkes Erdbeben. Der Riss ging quer durch die Gesellschaft. Staat und Partei wollten nicht, dass man darüber spricht. Der andere Partner, die Kirche, wollte den Konflikt nicht noch größer werden lassen. Das war auch meine Kritik an meine Kirche damals. Es stimmt aber nicht, dass wir ihn allein gelassen haben, wie später auch behauptet worden ist. Es gab heftigen kirchlichen Protest gegen die Diffamierung von Bruder Brüsewitz durch den ND-Artikel - der übrigens erst dafür gesorgt hat, dass sein Name selbst im kleinsten und letzten Winkel der DDR bekannt wurde. Auch nicht kirchlich gebundene Menschen hat dieser böswillige Artikel abgestoßen und empört.
Sicher, am Anfang war bei vielen vor allem Unverständnis, verbunden mit einer Ablehnung der Tat. Dann folgte jedoch das Nachdenken darüber, was ihn dazu bewogen hat. Reflexion der Motive und Umstände. Und viele waren trotz ihres Erschreckens dann erleichtert: »Endlich hat es jemand denen da oben gegeben!« Und aller Frust auf die vielen Dinge, um die es nicht gut bestellt war, brach sich nun Bahn. Da war man dann »oben« nur noch auf eines fixiert: ganz schnell Schadensbegrenzung.
Was nicht gelang. Die Unruhe wurde stärker. Im November folgte die Ausbürgerung Biermanns. - Hat sich Oskar Brüsewitz durch die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach in Prag 1969 beeinflussen lassen?
Das glaube ich nicht. Was 1968 in der CSSR versucht wurde, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz, hat ihn nicht sonderlich interessiert. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er je darüber sprach.
War es nicht unverantwortlich, dass er für seinen Protest einen öffentlichen Raum wählte, wo Menschen gefährdet werden konnten? Und ist seine Demonstration vergleichbar der von Selbstmordattentätern?
Nein. Er hat zwar die Öffentlichkeit gesucht, aber niemanden gefährden wollen. Wenn er dies gewollt hätte, wäre er zur SED-Kreisleitung gegangen. Er wollte keine Waffe gegen andere sein, nicht andere Menschen töten. Das unterscheidet seine Tat grundsätzlich von der von Selbstmordattentätern.
Der A.Z.-Artikel wandte sich gegen die »Einmischung in innere Angelegenheiten« der DDR durch die »Evangelische Kirche der Bundesrepublik Deutschland«.
Zu Unrecht. Die evangelischen Kirchen der Bundesrepublik haben sich zurückgehalten. Das war nur ein Aufhänger. Man hat einen Popanz aufgebaut. Für mich ist dieser Artikel im ND nicht zufällig am Tag vor dem Schulanfang erschienen. Er sollte eine Sprachregelung vorgeben für die Lehrer und Lehrerinnen. Und es wurde mit diesem Artikel signalisiert: »Das ist jetzt unser letztes Wort in der Sache, und wer hier noch etwas dagegen sagt, der kriegt es jetzt nicht mehr mit Worten, sondern mit etwas anderem zu tun.«
Wie Sie - mit der Stasi?
Man wusste, dass ich mit ihm eng befreundet war und glaubte nicht, dass ich nichts gewusst habe. Ich galt als äußerst verdächtig. Ich wurde beschattet. Man gab sich keine Mühe, das zu kaschieren. Konspiration war bei mir nicht mehr angesagt, sondern Einschüchterung. Mein operativer Vorgang hieß »Untergrund«.
Was stimmte nicht zwischen Staat und Kirche im Sozialismus der DDR?
Vieles. Nach Zeiten offener Konfrontation ist der Staat zwar auf subtilere Methoden umgeschwenkt, aber es hat leider kein Umdenken stattgefunden. Auch die Kirchenleitungen versuchten, direkte Konfrontation zu vermeiden. Ich habe Verständnis dafür, dass man Probleme nicht immer laut in der Öffentlichkeit, sondern in kleineren Gremien ansprach. Ich hätte mir aber viele Verlautbarungen meiner Kirche klarer gewünscht. Wie auch heute. Es gibt wieder zu viele verklausulierte Formulierungen, wo Klartext nötig wäre.
Zum Beispiel?
Wo Unrecht geschieht, muss dieses auch benannt werden. Zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage. Mehr Substanz würde ich mir auch auf sozialem und politischem Gebiet wünschen.
Würden Sie wissen wollen, wer der Autor des A.Z.-Artikels war?
Es würde nichts mehr zur Sache tun. Derjenige, der es gewesen ist, muss dies selber mit seinem Gewissen abmachen.
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