Wahrlich keine Tugend
Florian Schui zerpflückt die Logik der Austeritätspolitik
Seit den 1990er Jahren sparen deutsche Regierungen an Sozialprogrammen, haben erfolgreich einen Niedriglohnsektor eingeführt, rationalisieren und privatisieren Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, um den Staatshaushalt auszugleichen und die Lohnstückkosten gering zu halten. So soll Deutschland »Exportweltmeister« bleiben. Wenn die Wirtschaft dann wieder ordentlich wächst, heißt es, würden Arbeitsplätze entstehen und es allen wieder besser gehen. Florian Schui beweist, dass diese Kausalkette gar nicht funktionieren kann. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat von dieser Austeritätspolitik nichts. Dennoch sei die »Unterstützung für die Sparpolitik in der deutschen Öffentlichkeit besonders weit verbreitet und tief verwurzelt«. Mit seinem Buch will der Wirtschaftshistoriker absurde Mythen demontieren.
Die Argumente für die Austerität gründeten nicht vorwiegend auf ökonomischen Prinzipien, so Schui, sondern auf alten Werten der Mäßigung und Zurückhaltung. Während es in der Antike zum Beispiel bei Aristoteles noch verpönt war, maßlosen Reichtum anzuhäufen, predigte Martin Luther zwar die spirituelle Verpflichtung zur Armut, sah aber zugleich die irdischen, ganz materiellen Eigentumsrechte der Reichen als unantastbar an. Die Calvinisten schließlich machten Konsumverzicht und Bescheidenheit zur Maxime, um ihr Vermögen durch produktive Investitionen zu vergrößern. Adam Smith und Max Weber begründeten den Mythos vom »verdienstvollen Reichen«. Mit Karl Marx wurde eine andere Lesart populär: Der damals als fortschrittlich empfundene Kapitalismus sei nicht der Tugend protestantischer Investoren zu danken, sondern der Ausbeutung und dem Elend von Fabrikarbeitern.
»Austerität für die Massen, Kapital für die Eliten« ist auch das Leitmotiv deutscher Regierungspolitik, selbstverständlich im Namen des Fortschritts und der Stabilität. Schui weist darauf hin, dass diese Logik im 20. Jahrhundert geradewegs in den Zweiten Weltkrieg führte, als in Deutschland versucht wurde, der Finanzkrise von 1929 eine Politik der Sparsamkeit entgegenzusetzen. In der Nachkriegszeit schlug die Stunde von John Maynard Keynes. Er setzte auf staatliche Investitionsprogramme und Ausbau der Daseinsvorsorge - selbst um den Preis der Verschuldung öffentlicher Haushalte. Seine Vision: Dank des Produktivitätsfortschritts würde sich die Verschuldung amortisieren und irgendwann sogar ein Drei-Stunden Arbeitstag ausreichen. So weit sollte es nicht kommen. Die Phase des Keynesianismus endete in den 1970er Jahren, als sich die US-amerikanische und britische Regierung vom neoliberalen Denken eines Friedrich Hayek inspirieren ließen. Fundiert kritisiert Schui dessen Freiheitsbegriff, der von den materiellen Bedingungen abstrahiere.
Schließlich seziert der Autor das »Grüne Denken«, womit ökologisch begründete Austerität gemeint ist. »Grüne Denker« ließen der Bevölkerung in den Industrieländern mit dem Verweis auf die destruktiven Auswirkungen des Wachstums nur »die Wahl zwischen Austerität und Apokalypse«. Um die grünen Thesen zu widerlegen, zitiert Schui als Kronzeugen ausgerechnet den Politologen Björn Lomborg, dessen Statistiken wissenschaftlich höchst umstritten sind. Ein Vorwurf, den man Schui - mit Ausnahme des Kapitels zur »grünen Austerität« - nicht machen kann. Was Lomberg und Schui jedoch eint, ist der absolute Glaube an den Fortschritt der Technik, mit deren Hilfe auch der Klimawandel in den Griff zu bekommen sei.
Trotz seiner pauschalen Abwertung der »grünen Untergangspropheten« kommen auch Schui Zweifel an der Unendlichkeit des Wachstums. Und so plädiert er für eine »ethische Austerität« - auch im Sinne der Ressourcenschonung. Sodann kehrt er zurück zu Keynes: Angesichts des Wohlstandes in den westlichen Gesellschaften könnte dort die Arbeitszeit für die breite Masse radikal verkürzt werden. Zahlen sollten dafür die Reichen mit ihrem Vermögen. Muße und Freundschaft würden dann im Alltagsleben wichtiger als der Verbrauch von materiellen Gütern, die Umwelt werde dadurch geschont. Eine sympathische Vision. Offen lässt Schui allerdings, mit welchen Mitteln die Vermögenden zum Verzicht bewegt werden sollen. So bleibt nach der Lektüre seiner gut lesbaren Streitschrift ein großes Fragezeichen.
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