Bei den Separatisten in Südhessen
Warum das Städtchen Neckarsteinach nach Baden-Württemberg wechseln möchte
Viele Einwohner des Umlandes werden es kaum wissen: Neckarsteinach im Neckartal gehört zum hessischen Landkreis Bergstraße und nicht etwa zu Baden-Württemberg. Doch die 3800-Einwohner-Stadt ist fast vollständig vom badischen Rhein-Neckar-Kreis umgeben. Heidelberg ist in 20 S-Bahn-Minuten erreichbar, Mannheim in 40. Demgegenüber ist die Reise in die Kreisstadt Heppenheim, zum zuständigen Finanzamt in Michelstadt, zur Arbeitsagentur in Erbach oder zum Jobcenter in Mörlenbach erheblich aufwendiger. Für die lokale Schule gilt die baden-württembergische Ferienordnung, örtliche Sportvereine gehören badischen Dachverbänden an.
Seit 1803 ist Neckarsteinach der südlichste Zipfel Hessens. Mit seiner schönen Umgebung, Altstadt, Burgen und einem Museum zum Gedenken an den Dichter Joseph von Eichendorff lebt das Städtchen aber nicht nur vom Tourismus. Bedeutendster Gewerbebetrieb ist ein renommierter Zulieferer für die Automobilindustrie.
Neckarsteinach ist nur eine von vielen hessischen Kommunen, die über mangelnde Finanzausstattung durch das Land klagen. In der Stadtverordnetenversammlung zeigte Bürgermeister Herold Pfeifer (SPD) unlängst Verständnis für die Ansicht vieler Bürger, dass die Stadt in Baden-Württemberg besser aufgehoben sei als in Hessen, weil Stuttgart eine kommunenfreundlichere Politik betreibe. Stein des Anstoßes bildete letztlich der von der schwarz-grünen Landesregierung faktisch erzwungene und unter Protest verabschiedete Beschluss der Kommunalvertreter zur Gewerbesteuererhöhung auf ein Niveau deutlich über dem Landesdurchschnitt. Da der Haushalt ist nicht ausgeglichen ist, soll Neckarsteinach wie alle hessischen Kommunen nun unter den strengen Augen der Landesregierung mittelfristig »Haushaltskonsolidierung« betreiben. Auf einen Erlass aus Wiesbaden, der als Zeitpunkt für einen ausgeglichenen Haushalt das Jahr 2020 nannte, folgte eine zweite Anordnung, die den Ausgleich schon für 2017 vorschreibt.
Dies dürfte das Fass zum Überlaufen gebracht haben. »Die Bürger würden mich aus dem Rathaus holen, wenn ich so mit ihnen umspränge wie die Landesregierung mit den Kommunen«, so Pfeifer auf »nd«-Anfrage. Doch eine Loslösung Neckarsteinachs kommt für die Regierenden in Wiesbaden nicht in Frage. Die Kommune müsse ihre »finanzpolitischen Hausaufgaben« machen, dozierte Staatskanzleichef Axel Wintermeyer (CDU).
Doch dass die Äußerungen des SPD-Manns Pfeifer kein parteipolitisch motivierter Seitenhieb gegen Schwarz-Grün sind, sondern ein Aufschrei der »kommunalen Familie«, bestätigt auch der Landrat des Kreises Bergstraße, Matthias Wilkes (CDU). Das Ganze sei ein »letzter öffentlicher Notschrei« von Kommunen, die mit dem Rücken zur Wand stünden und wie eine Zitrone ausgepresst seien, so Wilkes gegenüber »nd«. Auch wenn die Arbeitslosigkeit im Kreis Bergstraße ähnlich niedrig sei wie im Rhein-Neckar-Kreis, verzeichne sein Landkreis aufgrund mangelnder Finanzausstattung durch das Land pro Kopf hundertmal so hohe Nettokassenkredite wie der Durchschnitt aller baden-württembergischen Kreise. Der Kreis Bergstraße könne 2015 nur noch 0,8 Prozent seiner Ausgaben für »freiwillige Leistungen« einsetzen.
Für den hessischen Linksfraktionschef Willi van Ooyen ist der Wunsch zum Übertritt nach Baden-Württemberg ein weiterer Beleg für die »Kommunalfeindlichkeit« der Landesregierung. Schuldenbremse, Kürzungen im kommunalen Finanzausgleich und andere Regeln seien Gift für die kommunale Selbstverwaltung. »Es würde mich nicht wundern, wenn in den Grenzregionen zu Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz noch mehr Kommunen mit dem Gedanken spielen, Hessen den Rücken zu kehren«, sagt van Ooyen.
Dass Hessens schwarz-grüne Landesregierung nicht bereit ist, Neckarsteinach per Staatsvertrag nach Baden-Württemberg zu entlassen, wissen allerdings auch die örtlichen Kommunalpolitiker. So dürfte ihnen zunächst nichts anderes übrig bleiben als nach dem Motto zu handeln: Bleibe im Land und wehre dich täglich.
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