Flüchtlinge, die auf Bäume flüchten
Als in der Nacht zum Donnerstag in der Münchner Innenstadt, Flüchtlinge beginnen vor der Polizei auf Bäume zu flüchten, ist klar: Einmal mehr zerschlagen deutsche Behörden die Hoffnungen von Menschen auf ein besseres Leben; endet ein Flüchtlingsprotest in Gewalt.
Seit Samstag bot sich Fußgängern, die am Münchner Sendlinger Tor vorbeikamen, das Bild, das man leider schon kennt aus deutschen Innenstädten: Ein Protestzelt. Ein paar bunte Transparente. Zwischen dicken Jacken und eiskaltem Boden kauern Menschen. Die Möglichkeit arbeiten zu gehen, auch außerhalb der Stadtgrenzen Freunde treffen oder einkaufen zu können: Auch die Forderungen der rund 30 Flüchtlinge sind dieselben wie jene in Würzburg oder Berlin. Schon vier Tage befanden sich die Männer und Frauen, die aus den Kriegsgebieten Afrikas und des Nahen Ostens nach Deutschland kamen, im Hungerstreik. Am Mittwoch stellten sie auch das Trinken ein.
Die Stadt reagierte. Mit Verachtung: »Versammlungsrecht bedeutet nicht, sich ein Hüttendorf zu machen und zu kochen.« (Kreisverwaltungsreferent Wilfried Blume-Beyerle). Mit Drohungen: »Ein Rechtsstaat kann sich nicht erpressen lassen« (Staatskanzleichef Marcel Huber). Und mit einem Aufgebot von 500 Polizisten gegen 30 verzweifelte Menschen.
Am Donnerstagmorgen schließlich kletterten die letzten sechs Flüchtlinge, durchgefroren und hungrig, von den Bäumen herunter auf die von Polizei umringte deutsche Wirklichkeit. Das Gespräch wolle man nun suchen, die Flüchtlinge zunächst in Hotels und Pensionen unterbringen, versprach Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter. Schöne Worte - auch sie kennt man von vergleichbaren Protesten.
Schon nach den Protesten am Münchner Rindermarkt vor einem Jahr blieb es bei Lippenbekenntnissen. Noch immer leben die Asylsuchenden unter miserablen Bedingungen, kritisiert der Bayerische Flüchtlingsrat. Ein Zugang zu Bildung und Arbeit sei kaum möglich. Doch auch jetzt ist sie wieder zu hören: die Mär, von den Fremden, die in Wahrheit nur kämen, um den deutschen Sozialstaat auszunutzen.
Das Gegenteil, das längst bewiesen und dennoch von vielen ignoriert wird, gehört auch zu den Absurditäten deutscher Migrationspolitik: Für ein Plus von 22 Milliarden Euro sorgen die 6,6 Millionen Menschen, die ohne deutschen Pass in diesem Land leben, belegte am Donnerstag eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.
Wahrheiten, die man auf den Transparenten von rechten und bürgerlichen Gruppen wie der bayerischen »Bürgerinitiative für Ausländerstopp« (BIA) nicht zu lesen bekommt. Oberbürgermeister Dieter Reiter warnt vor »plakativen Aktionen«, die »den Rechtspopulisten viel Raum« geben würden. Er meint den Protest für, nicht gegen Flüchtlinge. So werden auch sie weiter gegen Menschen demonstrieren, deren Leben in Armut und sozialer Isolation in Deutschland längst zur Gewohnheit geworden ist - am Freitag als die BIA in der Münchner Innenstadt und anderswo ein anderes Mal.
Die Ansicht, dass es in Deutschland Menschen gibt, die scheinbar weniger zum Leben brauchen, als für Deutsche als Existenzminimum gilt, wird wohl auch die Mehrheit des Bundesrates am Freitag einmal mehr feststellen. Kürzungen beim Existenzminimum, eine lebensbedrohende Minimalmedizin, all das gibt es in Deutschland nur für Flüchtlinge, am Sendlinger Tor und anderswo in einem Land, in dem Menschen leben, deren letzter Zufluchtsort Bäume in Fußgängerzonen sind.
Weiterlesen...
»Verhungern hätten sie ja auch zu Hause können« Zwei Studenten waren dabei, als die Münchner Polizei das Protestcamp räumte
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.