Als der liebe Gott Flugblätter gegen den Krieg verteilte
Zwei Weihnachtsgeschichten von der Ostfront - von Heinrich Vogeler und August Stramm
Am Vorabend des 40. Geburtstages von August Stramm hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt. Seit dem Attentat von Sarajewo war genau ein Monat vergangen. Postinspektor Stramm hätte sich lieber mit seinem Dissertationsthema, dem Welteinheitsporto, beschäftigt, als in einen Weltkrieg zu ziehen. Der zwei Jahre ältere Heinrich Vogeler meldete sich hingegen freiwillig an die Front. Die Vorstellung, dieser Krieg würde alles zum Guten wenden, stellte sich indes alsbald als Lüge heraus.
Bataillonskommandeur Stramm fiel am 1. September 1915 bei einem Angriff auf russische Stellungen. Seine Gedichte haben ihn überlebt, sie fanden Aufnahme in die 1919 erschienene Sammlung expressionistischer Lyrik »Menschheitsdämmerung«. Andere Texte, wie die jetzt von Peter Ludewig in kunstvoller Ausgabe neu editierten, sind zehn Jahre nach seinem Tod im sozialdemokratischen »Vorwärts« erschienen.
Vogeler gehörte ab April 1915 zum Stab eines an der Ostfront eingesetzten Korps. Hier entwarf der Nachrichtenunteroffizier Propagandaplakate und -zeichnungen. Einige Reproduktionen hat Bernd Stenzig in die Ausgabe des »Märchens vom lieben Gott« aufgenommen. Die Bilder indes blenden die Schrecken des Krieges aus. Auf ihnen fehlen Kampfszenen völlig. »Wo zerstörte Landstriche und Ortschaften oder Szenen nach der Schlacht gezeigt werden, scheint eher der Zahn der Zeit als der wirkliche grausame Krieg am Werk gewesen zu sein«, schreibt Stenzig.
Was der Künstler verdrängen wollte, brachte der Dichter in seinen Versen auf den Punkt. Nach drei Jahren Krieg entschied der auf Urlaub in Worpswede weilende Vogeler, nicht zur Truppe zurückzukehren. Er teilte diese Entscheidung seinem Vorgesetzten und dem Kaiser in Form eines Märchens mit. Es beginnt am Spätnachmittag des 24. Dezember 1917. Der liebe Gott, der auf dem Potsdamer Platz in Berlin Flugblätter mit den zehn Geboten verteilt, wird von Schutzleuten verhaftet, wegen »Landesverrat« standrechtlich verurteilt und erschossen. Das Märchen endet mit einem Appell an den Kaiser, dieser möge als Friedensfürst in Erscheinung treten und anerkennen, dass es ewige, über dem Fahneneid stehende Gesetze gibt. Kaum dass Vogelers Aufforderung publik wurde, erfolgte dessen Einweisung in die Irrenanstalt. Er hatte Glück, wurde nicht in die Landesirrenanstalt verlegt, sondern nach 28 Tagen »Beobachtung« entlassen.
Der aus christlichen Motiven heraus desertierte Künstler gehörte Anfang 1919 zu den Anführern der Worpsweder Kommune. Der Tanz der Kriegsfurie auf dem Kreuz müsse endlich ein Ende haben, lautet die Botschaft eines 1919 entstandenen Ölbildes. Seine in der christlichen Ethik wurzelnde Motivation wurde jedoch in allen nach seiner Übersiedelung in die Sowjetunion (1931) verfassten Lebensläufen ausgeblendet; stattdessen erschien der »Kaiserbrief« stets in Zusammenhang mit der Oktoberrevolution.
Warum Vogeler sich eine »opfermutige sozialistische« Biografie zulegte, die schon mit der russischen Revolution und vor der Gründung der KPD zur Jahreswende 1918/19 begann, legt Stenzig überzeugend wie plausibel dar. Der Emigrant hatte eine publizistische Vergangenheit, »die belastender kaum sein könnte«. Vogelers Nähe zur KPD-Opposition und seine Auseinandersetzung mit Wilhelm Pieck über die Überparteilichkeit der Roten Hilfe Deutschlands wogen schwer in Stalins Sowjetunion. So war und blieb ihm der Weg in die KPD versperrt. Er musste jedoch, um zu überleben, die Genossen um Hilfe bitten. Denn ohne die Empfehlung der Exilleitung der KPD gewährte die Internationale Rote Hilfe (MOPR) keine Unterstützung. Nach langem Hin und Her wurde dem nicht mehr arbeitsfähigen, aber »stets mit der Arbeiterbewegung verbundenen« Mann 1939 eine »akademische Pension« gewährt. Zwei Jahre später in die kasachische Steppe verbannt, verhungerte Vogeler jedoch dort 1942.
August Stramm: Nachtrag. Verlag Peter Ludewig, Kirchseeon 2014. Franc-Tireur Heft 11) 24 S., br., 17,50 €.
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