Im Kirschgarten
Martin Leidenfrost über den Versuch, ein griechisches Krisenfeuilleton zu schreiben
Einmal wollte auch ich ein Krisenfeuilleton über die europäisch angeleitete Verarmung der Griechen geschrieben haben. Da ich kein Wort Griechisch spreche, aber einigermaßen Rumänisch, steuerte ich die paar Bauerndörfer an Griechenlands Nordrand an, in denen Sprachwissenschaftler das »Meglenorumänische« verorten, eine dem Rumänischen verwandte balkanromanische Sprache. Groß war meine Hoffnung nicht, rechts von der Autobahn Skopje-Athen jemanden zum Rumänischreden zu finden. Meglenorumänisch gilt als todgeweiht, und schon meine Suche nach Istrorumänen auf der kroatischen Adria-Halbinsel Istrien war im Nichts geendet.
Es wurde bereits dunkel, als ich in ein kleinteilig kurvenreiches Bergland hinauffuhr, das mehr wie Bosnien aussah als wie Hellas. Mobilfunkbetreiber der Republik Mazedonien schossen mir SMS in die griechische Region Mittelmakedonien nach: »Willkommen in der Wiege der Zivilisation«. Es begann nicht gut. Überall nur Filterkaffee, und die alten Männer vor der Taverna des Dörfleins Skra sprachen untereinander Griechisch. Sie schickten mir eine »Rumänin« an den Tisch, die sich als ethnische Tschechin aus dem rumänischen Banat erwies. Die zugezogene Kellnerin bestätigte mir immerhin, dass das »Walachisch« der »Wlasch« noch gesprochen wird.
Bei Dunkelheit und Regen hielt ich im größeren Dorf Archangelos. Vor den Häusern standen Pick-ups japanischer Herkunft. In jener Samstagnacht jagten Jungbauern auf Kleintraktoren durch den Ort, bremsten im Fahrstil einer Vespa ab, parkten oder fuhren spritzig weiter. Ich hatte mich mit einer Meglenorumänischstudie vorbereitet, fragte nach einem »hutél«. Witwe Maria verstand und brachte mich unter. Eine erstaunliche Anzahl von Lokalen konkurrierten an der engen Straße. Vor dem »Miliardo« lümmelte ein Desperado in Tarnfarben und schaute eine Rede des linken Oppositionsführers Alexis Tsipras. Drinnen grau, schäbige Panele. Auch der Wirt und sein Kumpel schauten mit skeptischer Erwartung Tsipras. Sie hatten früher sozialistisch gewählt, den konservativen Ministerpräsidenten Samaras nannten sie einen »schwarzen Wolf«. Kneipier Dionysos, dessen Antlitz sich tatsächlich recht abgefeiert ausnahm, hatte das Foto eines Soldaten aufgestellt, sein Sohn als Fallschirmspringer auf Kreta. Sie sprachen Walachisch, verstanden halbwegs Rumänisch, die Konversation verlief aber zäh. Nur langsam gewöhnte ich mich daran, dass sie »ne« sagten und den Kopf schüttelten, wenn sie »ja« meinten.
Irgendwann stellte sich ein Blinder zu mir, ein weißhaariger Herr von kerzengerader Haltung. Wenn seine Hand gerade nicht zum Retsina-Glas griff, malte er mit Zeigefinger und Daumen auf den Tresen als würde er Rechnungen ausstellen. Ich erfuhr, dass Archangelos von 120 000 Kirschbäumen lebte, Ernte zehn Millionen Kilo. Dionysos hatte 30 Kirschbäume, Herr Dimitri jedoch tausend. »Solche Kirschen wie bei uns gibt es nirgends«, prahlte der Grundherr, »sie haben 20 Prozent Zucker, anderswo nur 15-16.« Mit der Drachme habe er besser gelebt als mit dem Euro, aber es gebe kein Zurück. Die Eurokrise habe ihn getroffen, aber weniger als der verregnete Sommer 2014 und weniger als Russlands Sanktionen gegen Obst aus der EU. Diesen Sommer habe er zwar noch alle Kirschen verkauft, »aber der russische Markt fehlt uns, das sind ausgezeichnete Kunden«.
Ich wunderte mich, warum ich den Blinden soviel leichter verstand als die Sehenden. »Im Juni und Juli haben wir 2000 Erntehelferinnen im Ort«, erklärte er, »die meisten aus Albanien und Rumänien. Ich habe mich an das Rumänisch der Rumäninnen gewöhnt.« Sie bekommen 20 Cent pro Kilo - und die Hübschesten bleiben bei ihren griechischen Arbeitgebern. Da stöckelte eine junge Albanerin herein. Schwarzes Haar und roter Kirschmund, ein erotischer Granateinschlag in der tristen Kaschemme. Die Frau von Dionysos’ Kumpel! Der weit über 40 war! Der gerade mal 20 Kirschbäume besaß! Die Erntehelferin vom Sommer 2013 langweilte sich schnell unter den alten Säcken. Das Paar zog in den »Music Club Envy« weiter.
Die Kirschbäume von Archangelos sah ich erst am nächsten Morgen. Niedrig, mit kurzem Stamm, ausladend. Der Regen hatte rote Erde auf die Straße geschwemmt. Nein, ein griechisches Krisenfeuilleton bringe ich nicht nach Hause. Dafür die Nachricht, dass rumänische Kirschpflückerinnen das Meglenorumänische retten.
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