In der Eurokabine

Martin Leidenfrost über die Koexistenz von Ungarn, Ukrainern und Russen in Transkarpatien

  • Lesedauer: 4 Min.

Als es die Ukraine dieses Jahr im Osten zerriss, forderte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán für die 150 000 Ungarn im Westen Autonomie. Danach hörte man nichts mehr. Ich fuhr daher in den einzigen ukrainischen Bezirk, in dem mehrheitlich Ungarn leben, nach Berehowe/Beregszáz. Meine beunruhigten Fragen lösten stets bei Männern einen Redefluss aus, und diese Männer brachten stets durcheinander, welcher Abgeordnete sie nun in Kiew oder in Budapest oder in Brüssel vertritt. Auch zu meiner eigenen Beruhigung fasse ich zusammen: Alle strichen den multiethnischen Charakter der Westregion Transkarpatien hervor, »hier ist alles gemischt«, »hier ist es friedlich«.

Jetzt nur noch die Details. Das ukrainischsprachige Regionalradio spielte keine russischen Songs mehr, das ungarischsprachige hingegen schon. Ich fuhr an einem sonnigen Adventsonntag durch die ungarisch-calvinistischen Grenzdörfern, die Ungarn schienen längst ausgewandert zu sein. Allein in der ukrainischen Sprachinsel Swoboba war die Tante-Emma-Kneipe voll. Transkarpatische Regionalpatrioten auch hier, gleichzeitig national­ukrainisch aufgebracht. Die üblichen Reden von »Verrätern« in der ukrainischen Armee, im Geheimdienst. »Einige unserer Grenzer stehen als Freiwillige im Donbass.« - »Und eure Ungarn?« - »Ich weiß von keinem einzigen, der dort gekämpft hätte.«

Hauptsächlich durchstreifte ich Beregszáz-Stadt. 48 Prozent Ungarn, 39 Prozent Ukrainer, 6 Prozent Roma, 5 Prozent Russen. Im heruntergekommenen Thermalbad setzte ich mich ins safrangelbe Schwitzbecken hinaus, belauschte zwei ältere Ukrainischsprecher. »Reden wir nicht über Politik!«, mahnte der eine, zu mir herüberschielend. Der andere konnte nicht an sich halten: »Die Leute regen sich auf, dass wir drei Ausländer als Minister haben. Aber dass drei Juden die höchsten Staatsämter bekleiden, das ist normal?«

Ich lernte einen jungen Beregszázer Ungarn kennen, der an der nahen Grenze patrouilliert hatte. »Die ungarischen Grenzer waren versorgt, wir waren vollkommen alleingelassen.« Der Front sei er dank einer Lüge seiner Mutter entgangen. »Wollen Sie Autonomie?« - »Hm, da sind Auswärtige gekommen, die was provozieren wollten. Die wollte hier keiner. Die sind wieder weg.« Erst nach einer Weile begriff ich, dass er zugereiste ukrainische Nationalisten meinte. Er hatte in Moskau gearbeitet, auch von Russland erwartete er nichts, »Russland verreckt.«

Am Abend zog mich ein athletischer Bursche in eine Bar, in der sich sonst nur noch seine Verlobte aufhielt, hinter dem Tresen. Sie Ungarin, er halber Russe. Ich fragte ihn: »Wo schlägt dein Herz, Láci?« - »Bei Judita!« - »Also ungarisch?« - »Ja!« Wenig später gestand er: »Am meisten liebe ich die russische Sprache.« Vom Wodka schwerfällig geworden, schlug er auf den Tresen: »Wenn ich kann, bringe ich Putin um.«

Nachts fiel mir im Park ein vielfach verpackter Quader auf. Ich vermutete ein neues Denkmal, so wie im Zentrum schon ein Denkmal für drei gefallene Beregower Ukrainer stand, verewigt in martialischen Facebook-Foto-Posen. Ich trat näher, glotzte in die weiße Glasfiberkabine hinein. Ein Fenster, ein Heizkörper. Plötzlich trat ein kräftiges Männlein mit sehr ungarischem Schnauzer heraus. Hier sei tatsächlich einmal ein Denkmal gestanden, erklärte der alte Ungar in exzellentem Russisch, »junger Lenin mit Mädchen«. Nun bewachte er die Kabine, »die ist Eurostandard!«

Wieder fragte ich nach der Autonomie. »Da bin ich dafür, aber das muss ich erklären.« Er führte aus, dass Transkarpatien als Ganzes mehr Kompetenzen bekommen sollte. Wie nicht wenige im ungarischen Winkel der Ukraine entpuppte sich der Mann als Sowjetmensch, er spuckte keine antirussischen Töne. Nur überheblichen russischen Zuwanderern habe er seinerzeit »in die Fresse hauen müssen. Du bist willkommen, aber wenn du auf meiner Erde lebst und mein Brot isst, erwarte ich Respekt.« Seither gebe es kein Problem mehr.

Aus der Kabine sollen Leckereien verkauft werden, ab nächstem Sommer. Bis dahin wird sie bewacht, für einen Monatslohn von 900 Griwnja, seit dem Verfall der ukrainischen Währung sind das 45 Euro. »Ja«, bestätigte der stolze Ungar lachend, »meine Arbeitskraft ist sehr viel weniger wert als die Kabine.« Ich ging schlafen, er setzte sich wieder in die Eurokabine. Der Winter hat erst begonnen. Er sitzt dort noch lange.

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