Täusche sich nur niemand im Essen. Allenthalben Heimtücke und Gefahr. Da ist die hinlänglich bekannte Suppe, die, einmal eingebrockt, dann auch ausgelöffelt werden muss - bis der Brocken einem im Hals stecken bleibt. Oder: So sehr die Zeiten wechselten, so wenig änderte sich doch deren Grundgesetz: Des Brot ich ess, des Lied ich sing. Und: Von der Gemütlichkeit am Grill, die einem die schweren Gedanken nimmt, ist es unter Umständen nicht weit zum Gemüt, das sich keine Gedanken mehr macht und bereit ist fürs Spiel mit dem Feuer. Nehmen wir auch den Stammtisch ins Symbol-Spiel: Feldherrenhügel und Propagandaministerium; jedes Bier als Bekräftigung sehr eigener Verantwortung: Das ist nicht mein Bier! Dem Gebot, während der Mahlzeiten gefälligst den Mund zu halten, sind just so viele Deutsche, von Kindesbeinen an, in bewährter Unterordnung an gefolgt, dass sie schweigend noch ins Gras bissen. Nicht von ungefähr spricht man von Henkersmahlzeit, und der wahrhaft unschuldige Mensch ist wohl nur derjenige, der guten Gewissens sagen darf, das jüngste Gericht sei sein Lieblingsgericht.
Wir anderen kennen uns besser aus in des Teufels Küche. Das Wort kommt an diesem Abend aus dem Munde von Markus Wolf, einst Chef des DDR-Nachrichtendienstes, des Landes oberster Aufklärer, bestallt, dem Westen heftig zu versalzen, was der gegen den Staatssozialismus zusammenbraute. Geheimdienst, das ist: eine Sache so am Brutzeln halten, dass der andere den Braten nicht riecht.
In seinem Buch »Geheimnisse der russischen Küche«, Mitte der neunziger Jahre bei Rotbuch Hamburg verlegt, erzählt Wolf über Gastfreundschaft und Esskultur, kehrt gewissermaßen mit dem Gaumen zurück in seine zweite Heimat - elf Jahre hatte er, Sohn des Erzählers und Dramatikers Friedrich Wolf, in der Sowjetunion im antifaschistischen Exil gelebt. Dem längst vergriffenen Buch - es wäre wohl wünschenswert, nähme sich ein anderer Verlag der begehrten Texte an - folgt nun eine von »Neues Deutschland« herausgegebene CD: Wolf liest Passagen, und das Booklet enthält zahlreiche Rezepte.
Diese CD stellte der Autor am Mittwoch vor - bei »ND im Club«, vor vollem »Haus«, im neu begrünten Innenhof des Redaktionsgebäudes, moderierend begleitet von Irmtraud Gutschke, bei Akkordeonmusik von Jürgen Gottschalk und Pelmeni, bereitet von Wladimir Egorzow und seinen Mitarbeitern, der am Berliner Ostbahnhof seinen Imbiss-Gaststätte mit (Egorzows Selbstaussage) »sowjetischer Küche« betreibt.
Das Buch war, als es vor zehn Jahren herauskam, ein Akt provokanter Souveränität: Ein Geheimdienst-Chef, nun heftigst hineingeworfen in die Spannungen von Enthüllung und Aufarbeitung, Aufrechnung und Abrechnung, moralischen Debatten und juristischer Verfolgung, umgeben von Hass und einem weiter wirkenden Mythos besonderer Unergründlichkeit - ausgerechnet er schreibt über Essen und Trinken? Als sei er, ausgerechnet er!, unberührt von Zeit und Raum!
Das schien jene höchst (geheim)diensttaugliche Ruhe, jene Eleganz der Gelassenheit zu bekräftigen, die Markus Wolf ja unbedingt nachzusagen ist.
Wobei er nichts weniger als ein rein kulinarisches Produkt vorgelegt hatte - was die Buchhändler freilich nicht hinderte, »mein Buch zu den Kochbüchern zu stellen, wo ich mich nun in der Nähe von Hannelore Kohl befand, was ja nun keineswegs meine Absicht war«.
Kein rein kulinarisches Produkt. Das meint, kurz gefasst, die Verbindung von Küche und Lebensart. Gesprochen wird da - auf der CD wie in den zwei Lese-, Frage- und Signierstunden im ND - über Sakuska, über Tee-Zeremonien, über die Kunst des Wodka-Trinkens (noch wichtiger: die Kunst des Mithaltens beim Trinken), darüber, dass Pelmeni nicht schlechthin zubereitet, sondern »geboren« werden - aber zwischen den Zeilen Gedanken über Freundschaft, Lebenssinn, Tragfähigkeiten einer Überzeugung; Erinnerungen auch an den Bruder Konrad und, zum Beispiel, dessen furios monumental ins Bild gesetzte Pelmeni-Siegesfeier im Schloss von Sanssouci, inszeniert für den großen, international bewegenden DEFA-Film »Ich war Neunzehn«.
Zur Rarität des ND-Abends zählten Leseproben aus Tagebüchern von Markus Wolf, geschrieben während seiner Zeit als Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung. Kassiber sozusagen aus dem Dienst ins Private. Seelische Befunde zum politischen Geschäft. Das hingeschrieben, was eigentlich ungesagt bleiben musste. Zeitgeschichte konkret, gesammelt in Notizen im jeweiligen Jahres-Kalenderbuch. Das Material für ein neues Buch? Verlage werden ihre Späher senden.
Wolf las aus Blättern von Anfang 1974. Bemerkungen zum »Onkel«-Kontakt, also: zu Wehner, dem »strategischen Bolzer« in der SPD-Spitze, wo Noch-Kanzler Brandt nur noch »pragmatisch-opportunistisch« agiere, vor (rechtem) Druck zurückweichend; nur noch »verbal ambitioniert« seien seine »Höhenflüge«.
Dann noch ein paar kurze Einblicke in die Arbeit Günter Guillaumes, der, so Markus Wolf, weit tiefer ins Kanzleramt eingedrungen sei, als es die andere Seite, beschäftigt mit Relativierung dieses Falles, stets zugeben wollte. Wir hören einen Brief Guillaumes, geschrieben nach seiner Verhaftung: eine Bitte um Nachsicht, für möglicherweise selbst verschuldetes Versagen bei den »Feinden«. Die Westdeutschen, denen er nun zugefallen ist, nennt er »Ermittlungstäter«.
Guillaume bittet die Genossen in Berlin, den Sohn Pierre, der zehn Jahre eines ungekannten Sozialismus nachzuholen habe, gleichsam auf den richtigen Weg zu führen. Wir wissen, das Leben selbst würde diese Aufgabe übernehmen, und es hat vom »richtigen Weg« stets andere Vorstellungen und Vorschläge als die hartnäckigsten Erzieher.
Markus Wolf. Einer, der viel erfuhr, weil er viel zu sagen hatte, und der, weil er dabei das Schweigen gelernt hat, immer wieder neugierig macht auf das, was er erzählt.
Markus Wolf: Geheimnisse der russischen Küche. CD, erschienen in der Edition »Neue Töne - Neues Deutschland« Mit Rezeptbüchlein, 12,90 EUR.
Bestellungen: shop@nd-online.de oder Tel. (030) 2978 1654.
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