Im Zeichen der blauen Blume
Das thüringische Jena erinnert an seine Zeit als Hochburg der Frühromantik
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), der zum Ende des 18. Jahrhunderts an der Jenaer Universität lehrte, zog mit seiner Philosophie von einem unendlichen Streben nach Autonomie Freigeister aus ganz Deutschland an. Als Wilhelm Schlegel einen Ruf an die Alma Mater erhielt, zögerte er nicht lange. Mit seiner Frau Caroline bildete er den Kern einer Lebensgemeinschaft, die unter dem Begriff »Jenaer Frühromantik« bekannt wurde.
»Eine Schar junger Männer und Frauen stürmt erobernd über die breite Masse Deutschlands«, schreibt Ricarda Huch über die Bewegung. Zum inneren Kreis gehörten der jüngere Bruder des Übersetzers und Philosophen Friedrich Schlegel, dessen Partnerin Dorothea Veit, der Dichter Ludwig Tieck, der Philosoph Friedrich Schelling sowie die Naturwissenschaftler Heinrich Steffens und Johann Wilhelm Ritter. Im Haus von Fichte, direkt an der mittelalterlichen Stadtmauer gelegen, ist heute ein Literaturmuseum untergebracht, das die Geschichte der jungen Wilden erzählt, die stark von der Französischen Revolution beeindruckt waren. Mit einem Themenjahr zur Romantik erinnert Jena an die Frühromantiker, die vor mehr als 200 Jahren in die Stadt kamen, um das ganze Land zu verändern. Das Jenaer Romantikerhaus erzählt die Geschichte der Gemeinschaft vom Fundament bis zur geistigen Blüte.
Die Freunde verband die Kritik an einer auf Vernunft und Nützlichkeit ausgerichteten Gesellschaft, die keine persönliche Freiheit und Emotionalität kannte. In der Zeitschrift »Athenäum« verkündete Friedrich Schlegel das Manifest: eine niemals vollendete Universalpoesie, die alle Lebensbereiche umfasst. Die Alternative wurde gelebt. Im Salon der Wohngemeinschaft stellten Mitbewohner und Gäste wie Novalis und Clemens Brentano neueste Dichtungen vor, Wilhelm Schlegel las aus seinen Shakespeare-Übersetzungen. Sehr beliebt waren auch eigenen Theaterstücke und Persiflagen auf Zeitgenossen. Der Märchenerzähler Tieck hatte großes schauspielerisches Talent.
Die Frauen lebten als gleichberechtigte Mitglieder, die emanzipiert eigene Vorstellungen umsetzten und sich nicht durch Konventionen in das gängige gesellschaftliche Korsett zwängen ließen. Das veranlasste Friedrich Schiller, der zur dieser Zeit eine Professur an der Jenaer Universität inne hatte, die mehrfach geschiedene Caroline Schlegel als »Dame Luzifer« zu bezeichnen. Über Sophie Mereau, die nach ihrer Scheidung Clemens Brentano heiratete, fiel das Urteil milder aus: »Ich muss mich doch wirklich darüber wundern, wie unsere Weiber jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt.«
Der Museumsrundgang beginnt mit einer Vorlesung bei Fichte in einem Raum mit besonderer Aura. Wie damals üblich, unterhielt der Philosoph in seinem Wohnhaus auch einen Vorlesungssaal - von den Dimensionen mit heutigen Vorlesungssälen allerdings nicht vergleichbar. Im Treppenhaus werden künstlerische Urbilder, wie die »Sixtinische Madonna« vorgestellt, die von den Romantikern aufgrund ihrer Ausstrahlung sehr verehrt wurde. Im Salon angekommen, erlebt der Besucher das Ringen der Gruppe um neue Formen und Inhalte. Auf der Suche nach dem Unbewussten entdeckten die Jenaer Romantiker das Mittelalter, antike Götter und die Urkraft, die sich in Sagen und Märchen verbirgt. Auf ihren geistigen Reisen legten sie sich keinerlei Beschränkungen auf. Als Zeichen für das gesamte Romantikjahr hat Jena die viel zitierte blaue Blume gewählt. Sie entstammt einem Werk von Novalis. Im unvollendeten Roman »Heinrich von Ofterdingen« erscheint dem Helden die Pflanze als Wegweiser auf der Suche nach Erkenntnis.
Bleibt abzuwarten, ob die Stadt die mit der Wahl dieses Symbols selbst formulierten hohen Erwartungen an das Themenjahr erfüllen kann.
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