Sehnsüchte, Enttäuschungen
Brigitte Reimann: Kristina Stella hat alles dokumentiert, was von ihr zu finden ist
Das Schicksal von Brigitte Reimann (1933-1973) war hart, doch ihr literarisches Werk hatte Glück. Sehr jung begann sie zu schreiben. Als 1961 die Erzählung »Ankunft im Alltag« erschien, wurde der Titel des Buches gleich zur Bezeichnung für eine ganzen Reihe von Büchern der DDR-Literatur.
Die schöne, immer Aufsehen erregende Frau starb früh nach langem Krebsleiden, doch anders als Kollegen, die ähnliche Schicksale erlitten, geriet sie nicht in Vergessenheit. Nach ihrem Tod erschien der fast beendete Roman »Franziska Linkerhand«, der zu den besten Werken aus der Literaturgeschichte der DDR gehört. Eine junge Architektin kämpft sich gegen Bürokratie und Mittelmaß durch. In diese Auseinandersetzungen hat die Autorin ihrer Heldin viel von sich selbst und der Stimmung der damaligen Zeit mitgegeben. Waren noch zu früheren DDR-Zeiten gekürzte Auszüge aus ihren Tagebüchern und Briefen veröffentlicht worden, so sorgte 1987 und 1988 die vollständige Edition der Tagebücher - »Ich bedaure nichts« und »Alles schmeckt nach Abschied« - für Furore. Hier konnte man die Sehnsüchte und Enttäuschungen, die Träume, Hoffnungen und Erlebnisse einer Schriftstellerin aus der DDR hautnah verfolgen.
Die Frau, die kaum einen Mann in ihrer Umgebung gleichgültig ließ und die selber immer wieder anfällig für deren Bewunderung und Liebe gewesen war, hatte so gern gelebt. Die knapp 900 Seiten waren eine Sensation, denn so leidenschaftlich und detailliert, so gefühlvoll und genau war selten das Leben einer Frau, die sich einbringen, die etwas leisten und die lieben und geliebt werden will, beschrieben worden.
Nun sind eine »Kommentierte Bibliografie« und ein Werkverzeichnis (1732 Seiten!) erschienen. Die Bibliothekarin Kristina Stella hat fünfzehn Jahre lang daran gesessen, alles von und über Brigitte Reimann zu sichten, aufzulisten und zu kommentieren, wobei das jetzt Erschienene allein die Arbeiten der Reimann (nicht die über sie!) dokumentiert. Es ist unheimlich gründlich, was die Autorin auflistet: jeden Test, die verschiedenen Auflagen und Nachauflagen, ihr Erscheinen in Anthologien, als Zeitungsfortsetzungen, die Übersetzungen, die Hörbücher, die Fassungen für Blinde, die Hörspiele, die Interviews, die veröffentlichten und unveröffentlichten Briefe.
Kommentiert und teilweise zitiert werden die dazugehörigen Vorworte, Klappentexte, Werbetexte. Illustrationen. Jede kleine Veränderung von Auflage zu Auflage, selbst Satzfehler und drucktechnische Änderungen werden vermerkt, so dass dem Leser ein schier unendliches Buchuniversum begegnet - und das bei einem Werk, das im Vergleich mit dem Schaffen anderer Schriftsteller oft als »schmal« bezeichnet wurde! Ähnlich akribisch wurde bei der Sichtung und Auflistung der Originaltexte gearbeitet.
Kristina Stella ist fündig geworden. So verfolgt sie die vielen aufeinander folgenden Ausgaben der bekannten Werke ebenso wie eine Liebhaberedition der frühen Erzählung »Karla« und offeriert eine Menge vor allem früher Manuskripte, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt sind. Das betrifft ebenso die Briefe der Reimann, wo es wohl noch einige Schätze zu bergen gilt. Auch im Bereich Fernsehen entdeckte sie Neues. Verdienstvoll ist es zudem, Korrespondenzen, Gutachten und ähnliches zu den jeweiligen Werken registriert zu haben. Man muss vor dieser Arbeit den Hut ziehen und kann künftige Reimann-Forscher und Fans nur beglückwünschen, mit solcher Vorarbeit in das Werk eindringen zu können.
Im Aisthesis Verlag werden die Bücher als Band 22 der »Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte« eingeordnet. (Vorangegangen waren unter anderem Bibliographien zu Karl Gutzkow, Ferdinand Freiligrath, Droste, aber auch zu Erich Kästner, Arno Schmidt, Peter Rühmkorf und Heiner Müller.) Interessant wäre es zu erfahren, warum nun das Werk Brigitte Reimanns diese Ehre erhielt. War es Zufall, Glück, Verdienst von Brigitte Reimann oder das Durchsetzungsvermögen von Kristina Stella? Was geschieht mit dem Werk von Reimanns Kollegen, die von ähnlichem literarischen Format sind? Die Bücher der meisten nicht mehr lebenden DDR-Autoren werden kaum neu aufgelegt, geschweige denn können sich Fachleute ausgiebig damit beschäftigen und publizieren. Brigitte Reimanns Werk hatte - verdientermaßen und glücklicherweise - wieder einmal Glück.
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