Parzivals Burg
Eine Reise in den Odenwald
Ein Märchen aus uralten Zeiten geht mir nicht aus dem Sinn, das Märchen vom Königssohn Parzival und der Gralsburg. Von ihren Wundern hat Wolfram von Eschenbach erzählt, Richard Wagner hat sie auf die Bühne gebracht. Aber wo lag sie? Hat es sie überhaupt je gegeben?
Im Odenwald gibt es eine Burgruine «Wildenberg». Dort soll Wolfram gewesen sein, jedenfalls sagt er es selbst in seinem Epos. Im Tal liegt die Stadt Wertheim, ebenfalls mit einer Burg ausgestattet. Der Burgherr Graf Boppo von Wertheim war der Lehnsherr der fränkischen Eschenbachs. Es ist ein nebliger Wintertag, die Bäume verschwinden in den grauen Schwaden. Unten mündet die Tauber in den Main und bildet eine riesige, seenartige Wasserfläche. Doch einen Hinweis auf Wolfram finde ich nicht. Nur ein Schild springt ins Auge: «Kinder, schockt eure Eltern - lest ein Buch!» Also weiter Richtung Amorbach zur Ruine Wildenberg.
Mit dem Auto kommt man bis in das Dorf Preunschen auf einer Hochebene, dort sieht man aber die Burg nicht, und eine Frau, die ich nach dem Weg frage, zuckt mit den Schultern. Sie weiß ihn nicht. Ich lasse das Auto stehen und irre weiter durch den Wald. Manchmal hört der mit rötlichem Buchenlaub bedeckte Fußpfad ganz auf, manchmal kreuzen ihn andere Pfade, die ich hin- und zurückgehe, bis sich endlich ein verblasstes Wegzeichen findet, das mitleidige Wandervereine aufgestellt haben. Endlich nach einer Biegung, fast wie aus dem Nichts und zum Greifen nahe, taucht ein mächtiges Torhaus auf, gesäumt von zerfallenen Mauern. Geht man hindurch, steht man im Burghof und traut seinen Augen nicht. Zwei Höfe, durch eine Mauer getrennt, deren Reste noch zu sehen sind, hinten einer der Kastelltürme, zu dem die mächtige von außen mehr als zehn Meter hohe Ringmauer hinläuft. Allenthalben Stufen, sie führen in kleinere Räume, in denen es ebenfalls grünt. Alle Stufen sind überwachsen, kein Dach hindert das Tageslicht. Zerbrochene steinerne Gefäße und eine verfallene Zisterne weisen auf eine Küche. Dahinter ein kleinerer Wohnraum mit einem Kamin. Eine Kaminwange ragt noch aus der Wand. Hier müssen die Wohn- und Schlafräume für Gäste gewesen sein. Heute steht das Gras auf dem Hofe hoch, niemand schneidet es. Vor dem anderen, dem großen Saal führt ein Treppengang in den Keller.
So sieht die Burg heute aus, genauer seit dem 4. Mai 1525, wo die «hellen Haufen» des Ritters Götz von Berlichingen sie zerstörten und aus ihrem Gestein Hütten bauten. Einst war es eine gewaltige und prachtvolle Burganlage im staufischen Stil und in staufischer Bauweise. Solche Burgen findet man sonst in Sizilien, im Reiche des Kaisers Friedrich II. Aber wieso im Odenwald?
Zwischen den Ruinen läuft ein älterer Herr, offensichtlich ein Einheimischer. Den frage ich danach. «Wissen Sie», entgegnet er statt einer Antwort, «dass Sie hier in der Gralsburg stehen?» Nein, das weiß ich nicht. Die Gralsburg, sage ich, vermutet man irgendwo in Spanien oder Südfrankreich. «Vielleicht ja, aber dies hier sollte einmal eine neue Gralsburg werden. Wolfram von Eschenbach hat sie beschrieben, und der Graf Rupert von Durne hat sie um 1200 gebaut.»
Der Parzival« entstand nach 1203. Davor aber gab es schon den »Perceval« des Franzosen Chrétien de Troyes mit der ersten Burgbeschreibung. »Haben Sie Zeit?«, fragt mein Zufallsbekannter. »Ich erzähle Ihnen, wie es dazu kam. Die Geschichte habe ich mir mit meinem Laienverstand zusammengereimt; die gelehrten Leute werden mit dem Kopf schütteln. Aber so könnte es gewesen sein.« Er war begierig, mir seine Version zu erzählen. Offenbar hatte er wenig Zuhörer. Wen interessiert heute schon das Mittelalter?
Er beginnt mit Ruprecht von Durne, der war ein alter Kreuzfahrer und diente wie der Graf Boppo von Wertheim dem Kaiser Barbarossa als politischer Berater. Ihr Lehnsherr war der einflussreiche Philipp von Flandern. Er gebot über Flandern, das Artois, die Picardie, Amiens, Vermandois und Valois und die Burg Cambrai. 1189 zog Philipp im Gefolge des Kaisers auf den Dritten Kreuzzug in den Orient, die beiden Grafen aus dem Odenwald mit ihm. Die Kreuzfahrer wollten Jerusalem zurückerobern, das 1187 in die Hände des Sultans Saladin gefallen war.
Barbarossa ertrank im Fluss Göksu bei Tarsus, und der englische König Richard Löwenherz führte nun das Heer. Statt Saladin zu schlagen, schloss er mit ihm einen Friedensvertrag. Er eroberte ein Jahr später auch noch die Festung Akkon und verschonte entgegen allem Brauch die Einwohner, die man früher aus christlicher Nächstenliebe hinzumetzeln pflegte. Beide Seiten vereinbarten sogar einen Gefangenenaustausch: 1500 gefangene Christen gegen die moslemische Besatzung.
In diesen Kriegswirren muss die Idee der Versöhnung und des Ausgleichs entstanden sein. Man sah plötzlich, der »Heilige Krieg« löste keine Probleme der Christenheit; er war selbst das Problem. Wahrscheinlich dachte auch Graf Philipp von Flandern so, doch er fiel vor Akkon. Die Toleranz-Idee wurde keine praktische Politik. Sie scheiterte, ehe sie begonnen hatte. Philipps Lehnsleute Rupert und Boppo kamen deprimiert, aber mit der Vision eines kulturellen Ausgleichs aus dem Orient zurück. Sie fassten zwei folgenreiche Beschlüsse: Erstens - eine neue Gralsburg zu erbauen als Zentrum eines politisch-religiösen Ketzer-Projekts. Zweitens - den Troubadour Wolfram von Eschenbach, der glücklicherweise Boppos Lehnsmann war, mit einer Übersetzung und Vollendung des »Conte du Graal« zu beauftragen.
Das erschien mir abenteuerlich. Das Geheimnis des Grals wäre also die reale geschichtliche Bewegung und nicht nur ein mystischer keltischer Kultus? Kann man das denn beweisen, fragte ich verblüfft. »Natürlich nicht«, gab er ohne Zögern zu. »Oder doch? Nehmen Sie den Namen, den Wolfram der Burg gibt: Munsalvaesche. Bei Chrétien hat die Burg noch keinen Namen. Wolfram hat uns mit ihm eine falsche Spur in die Pyrenäen gelegt. Doch Munsalvaesche, im heutigen Französisch ›Mont sauvage‹, heißt zu deutsch Wildenberg.« Naja, sage ich, na schön. Und was noch?
Wir gehen über den Rasen in das Areal, das einmal der Rittersaal war. Er war durch eine Reihe von ionischen Säulen geteilt. Sie sind verschwunden, nur die Sockel ragen aus dem mit Granitplatten belegten Boden. Es gab mehrere Türen. »Auf der einen Seite traten die Gäste ein, auf der gegenüberliegenden der Hausherr, bei Wolfram der Graf von Durne, in Wolframs Erzählung der Gralskönig Anfortas«, höre ich weiter. »Sie kamen in einen Palast, in dem hundert Kronleuchter hingen, dazu kleinere Kerzen an den Wänden. Hundert Bänke, mit gepolsterten Decken belegt, waren aufgeschlagen, jede für vier Gefährten, und zwischen ihnen lagen runde Teppiche. So ist es bei Wolfram beschrieben.« Dann stehen wir vor einem mächtigen Kamin.
Dieser Kamin, erfahre ich, ist das wichtigste Indiz dafür, dass Wildenberg die Gralsburg Munsalvaesche sein könnte. Denn nur bei der Beschreibung des Kamins in der Gralsburg werde Wildenberg genannt. »Bemühen Sie Ihre Fantasie: Eine Burg wird eingeweiht von nie gesehener orientalischer Pracht. Eine festliche Gesellschaft von Rittern und Damen lagert auf den persischen Teppichen, umgeben von unerhörtem orientalischen Luxus. Die Gäste kamen von weither, einzeln geladen durch Boten. War es eine Geheimgesellschaft? Hart am Kamin hat der Troubadour Wolfram gestanden, Dichter und Ritter. Er liest die ersten Kapitel seines ›Parzival‹ und weist an einer Stelle auf den lodernden Kamin, lächelt ironisch:
›sô grôziu viur sît noch ê
sach niemen hie ze Wildenberc‹
So einen gewaltigen Kamin wie in seiner Gralsburg habe man hier auf Wildenberg noch nie gesehen. Da lachten alle, denn der Wildenberger Kamin ging ja schon über alle Vorstellungen hinaus.«
Wolframs Epos, höre ich weiter, sollte man lesen als ein politisches Pamphlet und nicht als religiöses Traktat. Religiös sei es sowieso nicht, jedenfalls nicht im Sinne der Kirche. Der Papst komme in diesem »christlichen Epos« gar nicht vor, es sei denn als der böse Zauberer Clingschor, der der Liebe entsagt hat, um Macht über die Menschen zu gewinnen. In seinem Chastel Marveil, dem Zauberschloss, hält er Hunderte von Jungfrauen gefangen - eine Parodie auf die aufkommenden Klöster und die päpstliche Seelenmacht? Jedenfalls bezeichnet Wolfram diesen Herzog Clingschor aus Neapel spöttisch als »daz phaeffelîn«.
Auch die gotischen Kirchen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die im Nibelungenlied beschrieben werden, fehlen in der Parzival-Dichtung. Wolframs Ritter und Grafen beherrschen ihre Länder ohne geistlichen Beistand, der Hof des Königs Artus gleicht dem weltlichen Hof Barbarossas. Das Gralsschloss Munsalvaesche ist hingegen mit orientalischer Pracht ausgestattet - das Gegenteil der spartanischen Zisterzienserklöster des fanatischen Bernard de Clairvaux. Die Freude des Dichters gilt den weltlichen Vergnügungen, den bunten Turnieren, der weiblichen Schönheit, der leiblichen, nicht der spirituellen Liebe.
»Sehen Sie es nun«, rief meine Bekanntschaft enthusiastisch aus. »Wildenberg war keine gewöhnliche Burg, sondern eine machtbewusste Manifestation gegen den römischen Fundamentalismus. Und der ›Parzival‹ war sein Manifest, ein Aufruf zur Versöhnung zwischen Christentum und Islam. Wolfram erzählt die Geschichte des Kreuzritters Gamuret und seiner Söhne - des Moslems Feirefiz in Palästina und des Christen Parzival in Franken. Beide kämpfen gegeneinander, Feirefiz besiegt Parzival, schenkt ihm das Leben, und Parzival nimmt den islamischen Bruder als einzigen mit in die Gralsburg, als er deren König wird. Damit endet seine Erzählung.«
Schon im Gehen, fügt er hinzu, indem er nochmals auf den Kamin weist: »Hier war die Geburtsstätte der europäischen Toleranz-Idee, sie gehört auf die Liste des Weltkulturerbes. Voltaire, Lessing, Goethe - das begann hier. Es ist der lange rote Faden durch unsere Geschichte. Wir sind auf dem besten Wege, ihn wieder zu verlieren. Bei Wolfram ist der Islam Teil unserer Geschichte! Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.« Mit diesen Worten entfernte sich der letzte Verteidiger Wildenbergs. Versöhnung zwischen Christentum und Islam?
Heute ist Wildenberg vergessen. Kein Ort. Nirgends.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.