Was macht eigentlich Heintje?
Vor der Rossmannfiliale kommen mir zwei Radfahrer entgegen. Sie sind irgendwas zwischen 14 und 40, wirken durchaus straßentauglich, fahren aber auf dem Fußweg. Ein Bengel und eine Frau, zwei Solisten gegen alle Sicherheitsauflagen. Die Frau verlangsamt ihr Tempo und lenkt etwas ein. Zwei Straßenbauarbeiter gucken sie an. Vielleicht wird etwas aus den Dreien.
Der Bengel steuert ungebremst auf mich zu. Ich bin gespannt, wie er sich zwischen Rossmann und mir durchschlängeln will. Fünf Meter hat er noch. Die Breite seines Lenkers schätze ich auf 70 Zentimeter, ich gebe ihm 50. Der Bengel rollt unbeirrt an, sicher hat er schon einige schreckhafte Arbeitnehmer zu einem Seitensprung gezwungen und viele kurzsichtige Senioren mit einer Prellung garniert. In seinen Ghetto-Klamotten wirkt er nicht zurückhaltend, aber er sollte sein Basekap ganz originell verkehrt herum aufsetzen, um mehr sehen zu können.
Keine zwei Meter mehr! Ich trete einen halben Schritt zur Seite und greife nach seinem Arm. Er scheint zu schlafen, will weiterfahren. Sein Vorderrad schwenkt ruckartig nach links hinten, er stürzt nach rechts vorne. Ich halte seinen Arm fest, damit er sich nicht völlig die Kante gibt. Nun liegt er auf dem Rücken, seine Häkelhaken befinden sich teilweise unter dem Rad. Und wo ist das Basekap? Ein Hilferuf, wie aus einem traurigen Lied von Heintje. »Aaaahhhh!«
Aufgrund seiner modischen Vermummung rechnete ich mit einem Großmaul jenseits des Stimmenbruchs. »Ick will dir nüscht tun!«, schnauze ich ihn beruhigend an und reiche ihm die Hand. Heintje hat Angst. Aus den Augenwinkeln nehme ich die Bauarbeiter wahr. Sie werden von der Radfahrerin verlassen und gucken herüber, als wollten sie sagen: »Du hast dem Bengel gegenüber 35 Jahre mehr Erfahrung als Verkehrsteilnehmer, nutze die aus!« So etwas wie Zivilcourage bricht nicht über mich herein. Berlin ist anonym. Die Passanten kennen keine Verwandten.
Heintje liegt da, als hätte ich ihn aus dem Bett geschupst. »Uffsteh’n! Is keene Liejewiese!« - »Sie ham mir die Hand jebroch’n!« Na klar! Er stützt sich mit der rechten Hand ab, derjenigen, mit der er den ersten Kontakt zum Fußweg hatte. Weshalb fuchtelt er demonstrativ mit der Linken vor mir herum? Forschen Schrittes bewege ich mich von dannen. Ab und zu werfe ich, etwas rückwärts gewand, einen Kontrollblick ins Schaufenster, falls sich eine zweite Runde zusammenbraut.
Stolz und Scham sind das Yin und Yang meiner Spaziergänge. Ich will diese Radsportterroristen häufiger zur Strecke bringen. Optimal wäre es, wenn sich neben der jeweiligen Konfliktstelle zufällig ein Schuttcontainer befinden würde. Ich könnte den Fahrer vom Rad holen und sein Geschoss hineinwerfen. Und falls er zuckt, fliegt er hinterher. Viele Passanten würden meine Ordnungsliebe aus einem Sicherheitsabstand wohlwollend zur Kenntnis nehmen.
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