SPD-Fraktion entdeckt die Integration
Resolution und Maßnahmenpaket verabschiedet: Ausländerbehörde soll »Landesamt für Einwanderung« werden
Der Ort passt - wenn auch ungeplant - zum Programm. Vor wenigen Tagen gingen hier Tausende islamfeindliche Legida-Anhänger und Gegendemonstranten auf die Straße, am Wochenende traf sich nun die Berliner SPD-Fraktion zur Klausurtagung in Leipzig. Nicht auf der Straße, sondern im Fünf-Sterne-Hotel, aber mit ähnlichem Thema: Migration und Integration standen auf der Tagesordnung. Für Pegida, Legida und alle weiteren selbst ernannten Patrioten fand der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh in seiner Auftaktrede deutliche Worte. Man müsse klare Kante gegen die Stimmungsmache auf der Straße zeigen, so Saleh. »Vor einigen Tagen hat eine Mehrheit der Bürger ein Zeichen für Toleranz und Freiheit gesetzt. Danke Leipzig.«
Ganz unter sich und weit weg vom Koalitionspartner - an dem in Sachen Migration kein gutes Haar gelassen wird - wirkten die Genossen fast ein bisschen kämpferisch. Viel Schönes wurde gesagt, man versuchte Geschlossenheit zu demons- trieren und, als kleinen Vorgeschmack auf den Wahlkampf 2016, daran zu erinnern, wofür der erste Buchstabe im Parteinamen ursprünglich stand.
»Berlin ist mit den Flüchtlingen nicht überfordert«, sagt Saleh. Die Hauptstadt habe den Willen zur Menschlichkeit. Und weil das die CDU offenbar anders sieht, sich im Umgang mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz auch nicht gerade von ihrer herzlichsten Seite gezeigt habe, schlägt man kurzerhand vor, dem Innensenator Frank Henkel (CDU) die Ausländerbehörde zu entziehen. Umbenannt in »Landesamt für Einwanderung« soll es nach Wunsch der SPD der Senatsverwaltung für Arbeit und Integration unter Dilek Kolat unterstellt werden.
Kritisiert wird auf der Fraktionsklausur auch die Unterbringung der Flüchtlinge durch Sozialsenator Mario Czaja (CDU). Dieser habe viel zu spät auf die ansteigenden Zahlen reagiert. Laut Kolat fehlen in Berlin derzeit rund 5000 Schlafplätze für Flüchtlinge. Czajas Lösung, die Menschen in Turnhallen und Traglufthallen unterzubringen, lehnt die SPD-Fraktion ab.
Am Ende der Tagung verabschiedeten die Abgeordneten eine Resolution: Zentraler Aspekt ist der Vorschlag eines Staatsvertrags zwischen Senat und den muslimischen Verbänden. In diesem sollen gegenseitige Rechte und Pflichten festgelegt werden. Dazu gehören unter anderem ein Bekenntnis zur Verfassung des säkularen Staates, interreligiöse Toleranz, Gleichberechtigung von Frau und Mann, sowie die Errichtung eines Lehrstuhls für Islamkunde an einer Berliner Universität. Eine solche Professur soll garantieren, dass Lehrer für muslimischen Religionsunterricht ausgebildet werden können.
Dass der Weg in punkto Toleranz und Miteinander noch sehr weit ist, zeigte die von Naika Foroutan vorgestellte Studie »Deutschland postmigrantisch«. Die Wissenschaftlerin fand heraus: »Die Mehrheit der Menschen sieht Muslime und Deutsche als Gegensatz an.« Auf einer abstrakten Ebene seien 70 Prozent gegenüber mehr Mitgestaltung durch Migranten offen. »Wenn es aber um konkrete Themen geht, Beschneidung, Kopftuch, Moscheebau, werden vielfach Stereotype wieder aktiv«, sagt Foroutan. Wenig überraschend auch die Erkenntnis der Studie, dass Vorurteile und Ablehnung gegenüber Muslimen umso größer sind, je geringer das Wissen über den Islam. »Das bestätigt auch meine Erfahrung«, sagt Dilek Kolat. Sie stellt aber auch die Frage, ob man nicht, in einer säkularen Stadt wie Berlin, von der einseitigen Fokussierung auf die Religion wegkommen müsse. »Es ist doch beim Thema Integration viel wichtiger, wie die Menschen sich einbringen.«
In der Resolution legt sich die SPD-Fraktion außerdem auf den Ausbau von Kinderbetreuung, eine Ausweitung von Sprachförderungsangeboten und eine bessere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen fest.
Ähnliches forderte auch der Berliner IHK-Präsident Eric Schweitzer. Er betrachtete das Thema erwartungsgemäß aus einer wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Perspektive. »Berlin steht im internationalen Standortwettbewerb. Eine Willkommenskultur ist wichtig, um Fachkräfte anzuwerben«, sagt Schweitzer. Insbesondere die Hauptstadt würde sehr vom Gründergeist der Zuwanderer profitieren. Die SPD selbst sieht aber auch die Unternehmen in der Pflicht. Die meisten Firmen betreiben nach wie vor »Rosinenpickerei«, hieß es. Vielen Jugendlichen ohne Qualifikationen würde nie eine Chance gegeben.
Die Genossen stimmen sich also langsam auf Wahlkampf ein, in alter SPD-Manier allerdings: ganz gemütlich. Auch nach fast hundert Jahren lässt sich ein Treffen der Sozialdemokraten mit Kurt Tucholsky beschreiben: »Es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich.«
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