Gefahr aus der Luft

Prof. Dr. Timm Harders Labor auf der Insel Riems untersucht als nationales und internationales Referenzlabor Geflügelpestviren

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Prof. Dr. Timm Harder
Prof. Dr. Timm Harder

Anfang November 2014 wird in Europa erstmals die klassische Geflügelpest vom Subtyp H5N8 in einem Putenbestand mit rund 31 000 Tieren nahe Greifswald festgestellt. Der gleiche Subtyp tritt in den folgenden Wochen in fünf Geflügelhaltungen in den Niederlanden auf. Mitte November meldet Großbritannien den Ausbruch in einem Betrieb mit 6000 Zuchtenten in Nord-Yorkshire. Im Dezember diagnostiziert man die Infektion in einem Mastputenbestand mit rund 20 000 Tieren im Landkreis Cloppenburg. Ende Dezember wird H5N8 auch in einem konventionellen Entenmastbetrieb im Landkreis Emsland nachgewiesen. Im Rostocker Zoo wird am 8. Januar 2015 ein Weißstorch positiv getestet, anschließend weitere Zoovögel. Die öffentliche Wahrnehmung des Ausbruchs von H5N8 in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist gemessen an vorhergegangen Geflügelpestausbrüchen, verursacht durch andere, nicht weniger gefährliche Subtypen des aviären Influenzavirus, kaum noch von Aufgeregtheit oder gar Panik begleitet.

Insel Riems im Greifswalder Bodden. Gern wird sie »die gefährlichste Insel Deutschlands«, »Seuchen-Insel« oder auch »Insel der Viren« genannt. Tatsächlich kann sich, wer sie als Besucher betritt, eines mulmigen Gefühls nicht erwehren: Inmitten anmutiger Landschaft hochgesichertes Areal, Stallungen, in denen mit Erregern wie dem Schweinegrippen- oder dem West-Nil-Fieber-Virus geforscht wird, Labore mit Sicherheitsstufen von eins bis vier, wobei Labore ab Stufe drei Besuchern verschlossen bleiben. In der Stufe vier arbeiten die Virologen in Überdruckanzügen. Die Gefahr ist unsichtbar, aber sie ist da. Wie das Leid hinter dicken Mauern. Auch jeden, der nicht vegan lebt, darf das bedrücken. Zu vermeiden scheint es nicht, auch um andere Tiere zu schützen und weil Nutztiere aus der weltweiten Ernährung derzeit nicht wegzudenken sind.

Schon im Jahr 1910 hat der Mediziner, Hygieniker und Bakteriologe Friedrich Loeffler auf der kleinen Insel Riems die erste virologische Forschungsstätte der Welt begründet. In den über hundert Jahren ihres Bestehens erfuhr sie viele Veränderungen. Heute ist das Friedrich-Loeffler-Institut das Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, das nach eigener Aussage »neben der Viruserforschung alle Aspekte der Tiergesundheit landwirtschaftlicher Nutztiere bearbeitet«.

Wir treffen den Mann, der beim Verdacht auf einen Geflügelpestausbruch in Deutschland die letzte, verbindliche Diagnose erstellt. Er heißt Prof. Dr. Timm Harder und arbeitet auf der Insel Riems im Institut für Virusdiagnostik des Friedrich-Loeffler-Instituts. Sein Labor untersucht als nationales und internationales Referenzlabor aviäre Influenzaviren (AIV) auf ihre Gefährlichkeit für einen Tierbestand. Harders Labor ist Endpunkt eines hierarchischen Systems, dem wir es verdanken, dass uns solch ein Ausbruch, so er sich bestätigt, inzwischen einigermaßen entspannt lässt, weil wir gelernt haben, auf eine schnelle und zuverlässige Eindämmung des Erregers zu vertrauen.

Harder erklärt, wie dieses System funktioniert: Fallen einem Landwirt in seinem Bestand - zum Beispiel in einer Gänse- oder Entenherde - Tiere auf, die krank aussehen und womöglich sogar verenden, ruft er den Tierarzt. Der Tierarzt, der noch nichts Genaues weiß, weil für das Problem alles Mögliche verantwortlich sein könnte, schickt Proben an ein staatliches oder privates Labor in seiner Nähe. Ergeben sich bei dieser Voruntersuchung Verdachtsmomente auf ein Influenzavirus, das anzeigepflichtig ist, kommt Harder ins Spiel. Harder, der nun seinerseits »Material« erhält, muss dann klären: Ist es das vermutete Virus? Oder kann man es ausschließen? Bestätige sich die Erstdiagnose, dann sei seine Arbeit getan. Wenn nicht, würden viele Nachforschungen nötig, zum Beispiel, ob es sich bei den analysierten Proben auch um die richtigen handelte. Es gilt, auf Nummer sicher zu gehen. Denn Harders Labor ist in Deutschland das einzige, das auf Gesetzesgrundlage über die Gefährlichkeit eines Vogelgrippevirus entscheidet. Und damit über den Fortbestand oder die Auslöschung eines Tierbestandes.

Wovon hängt die Gefährlichkeit eines Virus - in der Fachsprache: seine Pathogenität - ab? Und was sagen uns die Kennzeichnungen der Subtypen mit H von 1 bis 16 und N von 1 bis 9?

Mit Prof. Dr. Harder haben wir einen Gesprächspartner, der in der populären Vermittlung komplizierter wissenschaftlicher Sachverhalte geübt ist. Er schlägt vor, dass wir uns Influenzaviren als eine große Familie vorstellen. Sie trügen denselben Familiennamen, im Falle der aviären Viren das N. Um die einzelnen Mitglieder unterscheiden zu können, trügen diese auch Vornamen - das H. Die Gefährlichkeit eines Virus hänge davon ab, wie infektiös er ist und wie tödlich der Krankheitsverlauf. Hochpathogen für das Geflügel, erläutert Harder, seien ausschließlich die Familienmitglieder H5 und H7.

Gerade ist Harder aus Parma zurückgekehrt, von einer der regelmäßig stattfindenden Diskussionsrunden der Europäischen Agentur für Lebensmittelsicherheit. Im Kreis von Kollegen spricht er natürlich nicht so vereinfachend-bildhaft wie mit uns, doch dies soll keine Klage sein. Im Gegenteil, wir sind dankbar dafür, dass er uns auf diese Weise einen Einblick in die Zusammenhänge von Vogelgrippe und Geflügelpest und deren Bekämpfung ermöglicht. Harder ist oft im Ausland unterwegs. Denn neben dem nationalen Netzwerk der Labore für die Aviäre Influenza, kurz AI-Labore genannt, gibt es das europäische und das globale. Harders Labor ist in allen Netzwerken aktiv, im globalen O.I.E., der »WHO für Tiere«, wie Harder uns die Aufgaben des Internationalen Tierseuchenbüros veranschaulicht, und in der UN-Organisation FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), deren Sitz sich in Rom befindet. Man stimme sich untereinander ab, kenne sich von Angesicht, was vertrauensbildend wirke, prüfe gegenseitig Testergebnisse. Die Mitarbeit in den globalen Netzwerken sei vor allem deshalb nötig, weil die aviäre Influenza keine europäische Krankheit ist: »Ihr Herz schlägt in Südostasien.«

Das seit 1996/97 zunächst in Südostasien und China aufgetretene hochpathogene Virus H5N1, das dort zwischen Wildvögeln und Nutzgeflügel zirkuliert, bleibe bis heute ein großes Problem und beschäftige Geflügelhalter, Tierärzte, Mediziner und Biologen intensiv. Bei jedem Ausbruch der Geflügelpest und bei jeder Meldung darüber kommen unterschwellig Befürchtungen auf, irgendwann könnten solch hochpathogene AI-Viren auf den Menschen übergreifen, eine Epidemie oder gar Pandemie auslösen. In der Tat ist ja längst bekannt, dass bestimmte Influenza-Viren »zoonotisches Potenzial« aufweisen. So formuliert es der Fachmann und darf voraussetzen, dass wir uns vor dem Gespräch kundig gemacht haben. Das Wort »Zoonose« setzt sich aus dem altgriechischen »zoon« für Tier und »nósos« für Krankheit zusammen, und es beschreibt eben die Übertragbarkeit von Infektionen von Tier zu Mensch (oder auch von Mensch zu Tier). Wie wahrscheinlich ist das? Solange das System funktioniert: gering. Doch auszuschließen ist es nicht.

»Viren sind wie komplizierte Kristalle, haben kein eigenes Leben und auch keinen Willen«, sagt Harder. Soweit rennt er bei uns offene Türen ein: Das ist klar. »Aber wir tun jetzt einfach so«, fährt er fort, »als ob sie einen Willen hätten. Das Virus will seinen Wirt nicht krank machen oder sogar töten. Was hätte es davon? Es will sich nur selbst erhalten und vermehren. Wo kommen die Viren ursprünglich her? Ihre Wirte sind frei lebende Wasservögel - Enten, Gänse, Möwen, Schwäne. Diese Wildvögel vermehren die Viren, erkranken aber nicht, denn beide passen gut zusammen. Wird das Virus auf Nutztiere in Ställen übertragen - Traktoren fahren auf den Hof, der Landwirt hat es unterm Stiefel - kann die Beziehung zwischen Virus und neuem Wirt entgleisen. Das Virus schlägt über die Stränge, ihm wird ein Stückchen in seiner Erbsubstanz hinzugefügt, und dieses Stückchen hält es fest - aus einer niedrigpathogenen Form kann eine hochpathogene entstehen. Das passiert ganz zufällig, ist nicht vorhersehbar, aber messbar. Und ja, einige dieser Viren haben die Eigenschaft erworben, auf den Menschen überzugehen - was schwere Erkrankungen und dann auch den Tod zur Folge hätte. Deshalb müssen Menschen, die direkt oder auch mittelbar mit infizierten Tieren in Berührung kommen, vor Kontakt mit dem Virus geschützt werden. Daher die martialische Ausrüstung. Allerdings: Auch ein hochpathogenes Virus strebt danach, länger in einem neuen Wirt vermehrt zu werden und irgendwann nicht mehr hochpathogen zu sein.«

Harder spricht von der Katastrophe, die »manchmal auch eine Chance« sei. Seit dem Auftreten von H5N1 habe man diese Chance gut genutzt. Viel Geld sei, auch aus der EU, in Grundlagen- und angewandte Forschung geflossen. Vor allem in den letzten acht Jahren habe man wesentliche Erkenntnisse gewonnen: darüber, wie man die Viren findet und wie Menschen sich schützen können. Noch aber wisse man nicht genau, welches die Faktoren sind, die die Entstehung hochpathogener Faktoren bewirken. Und noch sei man auf der Suche nach dem »heiligen Gral der Influenzaforschung«: einem universellen Impfstoff. Davon träumt auch Harder: »Mit einem einzigen Schuss alle Influenzaviren killen!«

Tiermedizin hat Prof. Dr. med. vet. Timm Harder einst in Hannover studiert. Seine Dissertation schrieb er über das Seehundsterben in der Nord- und Ostsee, habilitiert hat er sich an der Erasmus Universität in Rotterdam und am humanvirologischen Institut der Uniklinik Kiel, mit der tiermedizinischen Virologie befasste er sich dann in Neumünster. Vor acht Jahren kam er auf die Insel Riems. Er fühlt sich angekommen. Sollte er irgendwann in den Ruhestand gehen, das dauert noch ein paar Jahre, will er eventuell Hühner halten wie einst seine Großeltern. Das darf er jetzt nicht, er steht praktisch ständig unter Quarantäne. Das heißt, er darf keinen Kontakt mit gesunden Tieren haben. Er würde riskieren, ein Virus zu übertragen.

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