»Wir sind der Brückenkopf«
Kienitz begeht den 70. Jahrestag der Befreiung gemeinsam mit den Erben der Siegermacht
Ehrfurchtgebietend thront ein Panzer inmitten des Dorfes auf dem frisch sanierten Sockel. Es ist einer jener legendären T-34, der als Sinnbild für den Sieg der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg steht. Kienitz, als erste Gemeinde auf dem späteren Territorium der DDR durch die Rote Armee vom Faschismus befreit, hatte vom damaligen Verteidigungsminister Heinz Hoffmann einen solchen Panzer erbeten und 1970 aus NVA-Beständen erhalten. »Eigentlich war das ja nicht ganz korrekt«, sagt Michael Böttcher, Bürgermeister der Gemeinde Letschin (Märkisch-Oderland), deren Ortsteil Kienitz ist. »Die ersten Rotarmisten kamen am 31. Januar 1945 zu Fuß oder mit Pferdegespannen über das Eis der Oder, die Panzer wären da eingebrochen.«
Böttcher sitzt mit Roland Grund, dem Ortsvorsteher, und Edgar Petrick, dem Ortschronisten, im Gasthof »Zum Hafen« zusammen, um die an diesem Sonnabend traditionsgemäß stattfindende Gedenkfeier zu besprechen. Es ist der 70. Jahrestag der Befreiung, doch von der öffentlichen Anteilnahme, die sie damit in diesem Jahr erfahren, sind sie einigermaßen überwältigt - 70 Namen verzeichnet die Liste der Ehrengäste.
»Ich kann mir das nur mit der Ukraine-Krise und dem aktuellen Konflikt zwischen Russland und dem Westen erklären« sagt der Bürgermeister. »Wir sind hier 1945 befreit worden, so sehe ich das. Und dafür schulden wir der Roten Armee und den Völkern der damaligen Sowjetunion bis heute Dank.« Und er betont: »Es ist doch wichtig, dass heute nicht alle Brücken abgebrochen werden, wir müssen im Gespräch bleiben, damit sich solch ein schrecklicher Krieg wie damals nicht wiederholt.« Und einig sind sich alle drei, als er sagt: »Wir waren hier der erste sowjetische Brückenkopf auf dem heutigen deutschen Staatsgebiet, und wir sind das irgendwie heute noch.«
Zu den Feierlichkeiten haben sich unter anderem Landtagsvizepräsident Dieter Dombrowski und Wissenschaftsstaatssekretär Martin Gorholt, Landrat Gernot Schmidt und Gunter Fritsch, Landesvorsitzender des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, angesagt. Die Sieger von einst, repräsentiert durch die Botschaft der Russischen Förderation, schicken eine mehrköpfige Delegation unter Leitung von Botschafter Wladimir Michailowitsch Grinin.
Von deutscher Seite verleiht Matthias Platzeck in seiner Funktion als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums der Veranstaltung internationales Gewicht. Der frühere Ministerpräsident, in diesen Tagen unentwegt zwischen Potsdam, Moskau und Berlin im Einsatz, ist der Termin in Kienitz sehr wichtig. »An diesem Ort sind Soldaten der Roten Armee als Vorboten der Befreiung vom Faschismus erstmals über die Oder gesetzt«, sagt er dem »nd«. »Wir werden in den kommenden Wochen zunehmend eine Diskussion über den Charakter des Kriegsendes bekommen, und ich möchte nicht, dass es da zu einer Umdeutung und einer Verdrehung der Tatsachen kommt«, so Platzeck. Man müsse klarstellen, dass es Hitlerdeutschland war, das diesen Krieg entfesselt hat, und dass die Sowjetunion die Hauptlast beim Sieg über den Faschismus trug. Mehr als 25 Millionen Menschen habe die damaligen Sowjetunion dabei verloren, und dennoch sei sie zur Versöhnung imstande gewesen. Dafür sei er noch heute unendlich dankbar, und es gehe ihm darum, zu verhindern, dass all dies in Vergessenheit gerät.
Kienitz hat sich für den großen Tag herausgeputzt. Der Platz um das Panzerdenkmal an der Straße der Befreiung ist sogar geharkt. Im Gasthof »Am Hafen« haben die Wirtsleute Rochlitz den Festsaal für die Ehrengäste hergerichtet und in der Kirche werden sie alle gemeinsam eine neue Ausstellung über das Leid der Kämpfe im Oderbruch einweihen.
»Wir hatten hier an der Oder 75 Tage Krieg, es war die wohl längste Schlacht auf deutschem Gebiet«, erinnert Ortschronist Edgar Petrick. Unzählige Soldaten beider Seiten und viele Zivilisten seien gestorben, rund 80 Prozent aller Gebäude danach zerstört gewesen. Noch immer wird Joachim Kotzlowski, der Umbetter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, auch nach Kienitz gerufen, wenn etwa bei Bauarbeiten wieder einmal Gebeine von Kriegsopfern gefunden wurden. Zudem lauert im Boden überall gefährliche Munition.
Die Kämpfe waren über Kienitz überraschend wie eine Sturmflut hereingebrochen. Ende Januar 1945 lagen im Winterhafen Schiffe voller Flüchtlinge fest. »Die hat es damals besonders schlimm erwischt«, sagt der Ortsvorsteher. Die getroffenen Schiffe seien sofort im Eis versunken. Wer von den Kienitzern und den Flüchtlingen, wohl 2000 Menschen, den Dauerbeschuss durch Russen und Deutsche überleben wollte, musste sich zu Fuß über die »Eisstraße« aufs russisch besetzte Ostufer retten und vegetierte wochenlang in verlassenen Gehöften oder in den Wäldern. Es habe auch Übergriffe der Rotarmisten vor allem auf Frauen gegeben. Bekannte Nazis, wie etwa der NSDAP-Ortsgruppenleiter, seien oft sofort erschossen worden. Viele der Alten konnten jahrzehntelang nicht über das Grauen sprechen, weiß Roland Grund.
Wer genau hinschaut, kann die Wunden des Krieges auch in Kienitz noch erahnen. Zum Beispiel an der Kirche, die mit ihrem gestutzten Turm und dem halbierten Schiff Zeugnis von den schweren Zerstörungen gibt. Sie ist heute Brandenburgs erste Radwegekirche. In ihren Mauern, die einst einem Gefechtsstand der Roten Armee Schutz boten, bietet heute das Café »Himmel & Erde« Radwanderern auf dem Oder-Neiße-Radweg Einkehr und Erfrischung.
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