Das Geheimnis unserer Atemzüge
Herta Müller im Gespräch: »Mein Vaterland war ein Apfelkern«
Wer in Not ist, schreit und sucht nach einer Hand. Die muss nicht mal gewaschen sein. Man nähme gegen Sumpf und Ersticken sogar eine Mörderhand. Nur raus und festen Boden unter die Füße! Wer in Not ist, aber im Sumpf noch die eigene Hand rühren kann, zum Schreiben etwa, der liefert sich dem Wunder einer furchtbaren Gleichzeitigkeit aus: Er rettet sich und bleibt doch in Bedrängnis. Er fasst etwas derart in Worte, dass es einer Befreiung ähnlich wird, aber der Schrecken doch weiter zufasst wie ein abgerichteter scharfer Hund. Erinnerung hat Krallen, das Gedächtnis kennt deine weichsten Stellen. Du hast das Elend gebannt, aber kannst nicht beruhigter schlafen.
Vielleicht rettet die Einsicht, dass es nach bestimmten Erfahrungen Rettung nicht geben kann. Das ist die Schreibwahrheit der Herta Müller. Man kann Erfahrung nicht abgeben, sie nicht weggeben, man kann sie aber weitergeben. Weitergeben, indem man sie als Besitz verteidigt. Etwas von sich geben, das einem doch zugleich nachwächst. Geschichten, die nach innen graben - sie machen die Haut ungut dünn. Oder ungut hart. Wer weiß. Geschichten, die den Organismus bedrängen, dessen Durchlässigkeit. Wie diese Durchlässigkeit das Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt regelt, das ist ein Wunder - das jedoch nur Pflanzen vollkommen macht. Osmose. Menschen macht es immer verletzlicher. Neurose.
Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009, kommt uns aus ihrem Werk immer wieder als ungeretteter Mensch entgegen. Gefangen von der rumänischen Diktatur, die doch vorbei ist. Gefesselt von Gefühlen jener Verfolgung, die doch überstanden wurde. Besessen von einer Vorgeschichte, die sich doch in Freiheit auflöste. Die seit über fünfundzwanzig Jahren in Deutschland lebende Frau aus dem deutsch-rumänischen Banat, ein Wesen aus der Enklave, bespitzelt, verhört, gelockt, bedroht, gescheucht, ist mit ihrer Literatur eine Stimme der Beharrung, der geradezu sturen Fremdheit und Heimatlosigkeit geworden, geblieben. Sie stört, wo die besänftigende Rede davon geht, es sei »nicht alles schlecht« gewesen. Ja, sagt Müller: »Der Geheimdienst war am besten«. Müller gibt ihren Besitz nicht her, die Angst. Sie regt auf, nervt. Sie tritt immer auf die gleiche Stelle, wo ringsum wieder fleißig Fortschritt betrieben wird. Der nicht zu missbilligen ist, Leben will weitergehen. Sie aber ist unbeweglich, unversöhnlich, und in beidem sehr geduldig. Teilt auch im neuen Buch Hiebe aus: »Die Genossen haben sich eine gewisse Verschlagenheit angeeignet, den schrägen Blick, die breiten Gesten, das schmierige Lächeln, das impertinente Reden und vulgäre Prahlen der Ganoven ... Schauen wir uns doch Putin an, vom Scheitel bis zur Schuhsohle ist das alles zu erkennen.«
»Mein Vaterland war ein Apfelkern« heißt dieses neue Buch; Herta Müller erzählt der Lektorin Angelika Klammer ihr Leben. Die Kindheit in der deutschsprachigen Enklave in Rumänien. Der Vater war bei der Waffen-SS, die Mutter schleppt sich herzlos und müde durch ein Leben, das in einem russischen Arbeitslager den letzten Schliff für Gewaltreflexe und ledernde Gleichgültigkeit erhalten hatte. Die Einsamkeit im Tal des Kühehütens. Im Winter die Maisfelder, nicht abgeerntet, sie sahen aus wie »hungrige Herden, die senkrecht um die ganze Welt ziehen. Senkrecht, ja.« Sie erfindet tolle Metaphern: »Ich dachte auch, dass alle Atemzüge, die man tut, gezählt werden. Dass sie sich wie Glaskügelchen auf einer Schnur auffädeln und eine Kette bilden. Und wenn die Atemkette eine Länge hat, die vom Mund bis zum Friedhof reicht, dann stirbt man. Weil der Atem unsichtbar ist, kennt kein Mensch die Länge seiner Atemkette.«
Herta Müller befreundet sich mit deutschsprachigen Autoren im Banat, Gegnern des Systems - das wird ihr Entree ins gespenstische Spitzelprogramm der Securitate. »Ich brauchte jeden Tag dringend die Schönheit der Sätze.« Diese Schönheit - und der nie nachlassende Schock, auf Verrat zu stoßen: die beste Freundin, die für den Staatsschmutz, den Staatsschutz, einen Nachschlüssel für Hertas Wohnung beschafft; Oskar Pastior, der Lyriker - auch er, der in sowjetisch-ukrainischen Arbeitslagern Gedemütigte, Gequälte, war ein Spitzel.
Das Vaterland ein Apfelkern. Den Vers murmelte sie einst vor sich hin, auf ihren Wegen zur Polizei. »Man irrt umher zwischen Sichel und Stern.« Der Mensch ist klein. Das meinten die Peiniger im Dienste der großen Sache auch. »Was glaubst du, wer du bist?« Diese Frage hat Müller aus Verhören bei der Securitate im Gedächtnis behalten. Es ist ein Kernsatz für das Verhältnis zwischen Menschen. Zwischen mächtigen und weniger mächtigen Menschen. Wenn man den Satz von seiner bösen Anmaßung befreit, ist es auch die wesentliche Frage jedes Menschen an sich selbst. Denn der einzig wahre Gerichtshof ist innen aufgeschlagen. Was weiß man von sich, was glaubt man von sich, wie weit liegen Glauben und Wissen voneinander entfernt? Müller hat sich solche Fragen nicht in freien Räumen stellen können, sondern in Zwangslagen eines Systems, in dem sie nicht lebte, sondern mit Überlebenstechniken befasst sein musste. Dies Handwerk verlernt man nicht, auch wenn man, endlich, im freien, demokratischen Westen zur Ruhe finden durfte.
Erinnerung: Das Fuchsfell zu Hause, auf dem Boden liegend, war ein kleiner weicher Teppich. Plötzlich ist ein Stück abgeschnitten, Wochen später wieder Stück, vom Bein, immer wieder, immer weiter. Herta Müller lässt die Fuchsteile liegen - ein unheimliches »Spiel«; in den Akten findet Müller später die Bestätigung der Wohnungseinbrüche durch die Geheimpolizei. Zerschneiden, zermürben. Sozialistische Wachsamkeit. Müller erzählt vom Widerstand in einer Gesellschaft, die vom ganzen Menschen Besitz ergreifen wollte, dem Einzelnen stets das »bessere Wir« als Ziel und Warnung vorhaltend.
Dies Interviewbuch offenbart einmal mehr, dass das zwanzigste Jahrhundert noch da ist, mit seinen Provinzen, mit seinen kleinen zerriebenen, aber tapfer lebendigen Orten, seinem schreienden Widerspruch, seinen Opfern - deren Geschichten, die ihnen einst in die Münder zurück geschlagen wurden, jetzt von der Welt ertragen werden müssen. Der Welt, in der man damit beschäftigt ist, zu Tagesordnungen zurückzukehren. Indem Autoren wie Müller »das lange Totgeschwiegene in Erzählung aufgehen lassen, wecken sie unseren Widerwillen gegen die Zumutungen auch gegenwärtiger Gewalt und Macht« (Ilja Trojanow).
Müller erzählt in den Gesprächen mit Angelika Klammer von ihrem Verhältnis zur Sprache. Höchst wach, scheu muss die sein, muss auf jede Ungenauigkeit und Herzlosigkeitsfalle lauern, wenn Menschen einander begegnen und einen Ausdruck für sich und ihr Verhältnis zur Welt suchen. Sprache verberge, sagt die Schriftstellerin, Sprache sei eine Botschafterin jener Lüge, man könne sich einander so ohne Weiteres verständigen. Aber die einen sagen Diktatur, die anderen neue Zeit; die Sprache sang von der Partei, aber Menschen litten; die Sprache behauptete Humanität, aber Hände packten zu und schleppten Menschen ins Lager. So wurde, bleibt Sprache für die schreibende Herta Müller etwas, das aufzubrechen sei, bis Worte wie Relativierung und Beschönigung aufgeben.
In ihrer Schublade daheim liegen abertausende ausgeschnittene Wörter, für lyrische Collagen. Das Guthaben gegen die Vergesslichkeit. Das Vermögen wider den Sprachschleim der Besänftigung: Wir haben doch ans Gute geglaubt, wir wollten doch die Hoffnung aufrecht erhalten. Natürlich wurde im Osten geglaubt; gehofft. Herta Müller schaut sich Leute, die das sagen, sehr genau an. So viele Ehrliche noch immer, so viele Aufrechte nach wie vor - aber wer nur bildete die freiheitsverachtende Struktur, die einschüchternde Dogmatik, die gnadenlose Langeweile, das boshaft wie lachhaft starre Wesen jenes Systems, das 1989 wegdemonstriert wurde. Wer nur, wer? Brecht ließ fragen, ob Cäsar nicht wenigstens einen Koch bei sich gehabt habe. Herta Müller fragt, ob die Kommunisten neben ihren so vielen selbstlosen, kritischen, utopietreuen, gutmütigen Geistern nicht wenigsten einen einzigen verderbensbeteiligten Mitläufer hatten. Einen wenigstens.
Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch mit Angelika Klammer. Hanser Verlag München. 240 S., geb., 19,90 €.
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