Katholiken wählen die 666
Von Jürgen Amendt
Neulich in der Straßenbahn, Linie 21, kurz vor der Haltestelle »Neue Bahnhofstraße«. Ortskundige wissen: Das ist die Haltestelle, von der aus es nur ein kurzer Fußweg zum S-Bahnhof Ostkreuz ist. Touristen wissen: Hier spätestens müssen sie aussteigen, denn hier endet der »Szenekiez«; wer weiterfährt landet in Lichtenberg, irgendwo im Nirwana zwischen Nöldnerplatz und S-Bahnhof Rummelsburg und muss zum Hostel einen langen Weg zurücklaufen. Ortskundige Touristen wissen, dass man sich in diesem Nirwana auch in den einen oder anderen halblegalen Club verirren kann, dort die Nacht verbringen muss und erst früh am Morgen wieder in die Freiheit entlassen wird. Doch das nur nebenbei.
Das junge Pärchen, das an diesem Tag in der Linie 21 sitzt, hat ganz offensichtlich an etwas anderem als an einem der dunklen Löcher Interesse, die man in Reiseführern über Berlin mit dem Anglizismus »Location« bewirbt. Die beiden sitzen über ein Wörterbuch gebeugt. Aus den Unterhaltungsfetzen, die an mein Ohr dringen, entnehme ich, dass die beiden einige Stationen vorher an einer Haltestelle auf einem Plakat das Wort »Aussteigertelefon« gelesen haben.
Im Wörterbuch Deutsch-Englisch können sie das Wort aber offenbar nicht entdecken. Also versuchen sie, sich aus den Wortteilen irgendwie den Sinn des Begriffs zu erschließen. »Aussteigen« und »Telefon« lassen sich schließlich im Übersetzungsbuch finden. »Probably«, meint schließlich der weibliche Teil des Backpacker-Duos, »it’s something about the Berliner S-Bahn or BVG«.
Ich ließ die beiden in dem Glauben, denn man sollte Berlin-Touristen nicht ihrer Klischees über diese Stadt berauben. Außerdem war ich mir nach reiflicher Überlegung gar nicht mehr so sicher, dass es das »Aussteigertelefon« bei der Berliner S-Bahn wirklich nicht gibt. Es existieren »Aussteigertelefone« für Neonazis, Salafisten und andere Extremisten, die mit ihrem Terror uns Bürgern das Leben schwer machen. Warum also nicht auch für die hiesige S-Bahn, dieser Eier legenden Wollmilchsau der Deutschen Bahn?
Wie aber darf man sich solch eine Ansage in einem Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs in Berlin vorstellen? Vielleicht so: »Wollen sie aus dem Salafismus aussteigen, drücken sie die 72« (wegen der Jungfrauen, ha, ha); »Wollen sie dem Rechtsextremismus den Rücken kehren, drücken sie die 88« (Sie wissen schon, der so gar nicht geheime Geheimcode der Nazi-Glatzen). Katholiken müssen wahrscheinlich die 666 wählen, FDP-Wähler die 3 (mehr als drei Prozent Wählerstimmen schafft die Partei nicht mehr).
Ob das Touristen-Pärchen mit seinem Mobiltelefon bei der BVG angerufen hat, um einen ganz speziellen Aussteigerwunsch zu artikulieren, entzieht sich meiner Kenntnis. An der »Neuen Bahnhofstraße« sind sie ausgestiegen - ganz ohne »Ausstiegshotline«
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