Die utopische Pirateninsel

»Libertalia« - die kollektive Aufkündigung eines Herrschaftsverhältnisses. Von Florian Schmid

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 6 Min.

Schon der römische Philosoph und Politiker Cicero bezeichnete den Piraten als »communis hostis omnium«, den gemeinsamen Feind aller. Das bestätigt ein Blick auf die Mitgliedsstaaten der »Kontaktgruppe zur Piraterie vor der Küste Somalias« mit 62 Staaten und 21 supranationalen Organisationen. Neben arabischer Liga und NATO kämpfen Russland, EU und Bahamas einträchtig gegen somalische Piraten, die in ihren etwa sechs Meter langen, per Yamaha-Außenbordmotor betriebenen Skiffs durch den Golf von Aden jagen und mit Kalaschnikow oder RPG7-Raketenwerfer auf dem Rücken die bis zu 20 Meter hohen Stahlbordwände der Handelsschiffe hinaufklettern. Für die Befürworter von Auslandseinsätzen ist die Beteiligung der Bundeswehr an der Mission Atalanta zudem willkommener Anlass, das militärpolitische Engagement Deutschlands zu intensivieren.

Ähnlich einmütig wie in der Antike und heute zogen auch vor 300 Jahren während des »Goldenen Zeitalters der Piraterie« Staaten und Handelsvereinigungen zur imperialen Machtsicherung gegen die in der Karibik und an der afrikanischen Ostküste operierenden Piraten zu Felde. Wobei dem Piraten des »Goldenen Zeitalters« der Nimbus des widerständigen Kämpfers anhaftet, dem somalischen Freibeuter würde dies niemand zugestehen. Dieser Mythos des widerständigen Rebellen ist aber nicht nur eine moderne Projektion wie im Film »Fluch der Karibik« oder in der Totenkopffahne als Logo eines linken Fußballvereins. Er existierte schon vor 300 Jahren.

Die zentrale erzählende Quelle für das »Goldene Zeitalter der Piraterie« ist die »General History of the Pyrates« von Captain Charles Johnson. Manche vermuten Daniel Defoe als Autor dieses 1724 in Großbritannien erschienenen Buches, dessen Wahrheitsgehalt durchaus in Zweifel gezogen werden darf. Wenn es auch schon mehrere Übersetzungen dieser Textsammlung gab, bringt Matthes und Seitz mit »Libertalia« erstmals eines der interessantesten Teilkapitel auf Deutsch heraus. Darin wird die Geschichte von Captain Mission, seinem freigeistig philosophierenden Offizier und der Crew erzählt, die eine Piratenrepublik auf Madagaskar gründeten. In Libertalia, »wo sich alles in gemeinschaftlichem Besitz befand und das Eigentum des einen von dem des nächsten durch keinerlei Schranken abgegrenzt war«, herrschte eine »demokratische Regierungsform«, deren Mitglieder als »Liberi« (Freie) bezeichnet wurden, darunter auch befreite Sklaven. Die von den Freibeutern gegründete Republik existierte nur kurze Zeit und wurde von Ureinwohnern zerstört. Captain Mission und sein Schiff versanken schließlich in den Fluten des Meeres.

Kaum eine andere Episode der Piraterie wurde so stark rezipiert und weiterverarbeitet. »In Libertalia scheint fast ein Mosaik der Moderne auf«, so der Herausgeber Helge Meves. Libertalia findet sich im Werk von William Burroughs, der Anarchist Hakim Bey beschwört in »Temporäre Autonome Zone« die an Libertalia angelehnten pirate-utopias als widerständige Orte in einem globalen revolutionären Netzwerk. Sogar Carl Schmitt verwies auf die Geschichte Captain Missions als Rechtfertigung gegen die englische Argumentation, den U-Boot-Krieg als Piraterie völkerrechtlich zu ächten.

Auch Hollywood nahm sich des Themas an. In »Gegen alle Flaggen« (1952) kämpft Errol Flynn als Vertreter von Recht und Gesetz gegen die Bewohner der Piratenrepublik Libertalia, die, aller politischen Ansprüche entledigt, lediglich als Kriminelle dargestellt werden. Diese herrschaftskonforme Sicht auf die Piraterie dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass das Libertalia-Kapitel in bisherigen deutschen Übersetzungen fehlte. Dort wurde lieber der verbrecherische Schurke präsentiert, als eine politische Dimension der Piraterie abzubilden. Dabei spielte die zu jener Zeit eine wichtige Rolle.

Marcus Rediker und Charles Linebaugh spüren in »Die vielköpfige Hydra« der Entstehung des atlantischen Proletariats und seiner Rolle in Revolten in England und Amerika nach. Dabei gehen sie auch auf die Piraterie als widerständige proletarische Praxis ein. Für die englische Handelsmarine sind aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sechzig Meutereien überliefert, die Hälfte davon war erfolgreich. Die Handelsschiffe, die den Atlantik überquerten, waren Prototypen der neuen, hierarchisierten Arbeitswelt und nahmen kontrollierte Arbeitsgänge der Industrialisierung vorweg. Rediker und Linebaugh sehen das Segelschiff als »für diese Phase der Globalisierung charakteristische Maschine«, das »die Eigenschaften der Fabrik und des Gefängnisses« in sich vereinte. Mit Zwangspressungen wurden Seeleute und Kolonisten rekrutiert, als viele Menschen im Zuge dessen, was Marx die »ursprüngliche Akkumulation« nannte, enteignet, von ihrem Land vertrieben und als »Vagabunden« in neue Arbeitsregime gezwungen wurden. Die Piraterie war in Zeiten dieses Terrors eine proletarische Selbstermächtigung und die radikalste Form des Massenwiderstands unter Seeleuten.

Piraten agierten jenseits der imperialen und handelsökonomischen Ordnung. Es gab sogar Befürchtungen, die Piraten könnten ihren eigenen Commonwealth aufbauen, was den Separatismus etwa in Sierra Leone, North Carolina und Madagaskar förderte und die Integrität der kolonialen Ordnung ernsthaft in Frage stellte. Gleichzeitig störten die Piraten mit ihren Überfällen den ab Ende des 17. Jahrhunderts stärker werdenden Sklavenhandel. In einem Schreiben an das britische Handelsministerium 1724 heißt es, dass innerhalb von zwei Jahren fast 100 Sklavenschiffe vor der afrikanischen Küste von Piraten aufgebracht worden waren. Das Empire reagierte mit einer militärischen und juristischen Offensive. Die Massenhinrichtung von Piraten war Ausdruck dieser großer Repressionswelle.

Die Piraterie als Störfaktor des Sklavenhandels ist nicht zu unterschätzen. Ein Drittel der Piraten des »Goldenen Zeitalters« sollen Schwarze gewesen sein, meist befreite oder entlaufene Sklaven. Auch ein Teil von Captain Missions Besatzung rekrutierte sich aus einem geenterten Sklavenschiff, wobei in der Erzählung betont wird, dass sich jeder Gefangene aus freien Stücken der Mannschaft anschließen konnte. So hielten die Piraten den auf rassistischer Ausbeutung basierenden Verwertungsketten auf See eine autonome, widerständige Gesellschaftsordnung entgegen. Nach der Niederschlagung der Piraterie fegte eine regelrechte Aufstandswelle durch die amerikanischen Kolonien. Denn in der Entstehung und Ausbreitung des atlantischen Proletariats spielten Piraten und krawallfreudige Seeleute auch für städtische Erhebungen eine wichtige Rolle. Ein Höhepunkt stellte der New Yorker Sklavenaufstand von 1741 dar.

»Libertalia« war vor diesem Hintergrund, wie das Marcus Rediker so treffend nennt, »fiktiver Ausdruck der realen Traditionen, Praktiken und Träume der atlantischen Arbeiterklasse«. In diesem Sinn könnte »Libertalia« als literarische Utopie mit sozialhistorischem Hintergrund gelesen werden. Der Umstand, dass die Geschichte auf einer Insel angesiedelt ist (wie Thomas Morus »Utopia« und andere utopische Texte der damaligen Zeit), spricht für eine solche Lesart. Wobei in diesem prismatischen Narrativ eine subalterne Selbstermächtigung gegen die bestehende Ordnung, eine antirassistische Position zur Sklaverei und der Anspruch, eine selbstorganisierte, auf alltäglicher Aushandlung basierende Gegengesellschaft zu schaffen, zusammenfließen. »Seit dem 18. Jahrhundert … erlebt der Leser mit, wie das utopische Gemeinwesen entsteht: Die handelnden Subjekte werden zu Demiurgen einer idealen Welt«, so der Utopieforscher Richard Saage. Fast möchte man meinen, der unbekannte Autor der »General History of the Pyrates« hätte in seiner zeitgeschichtlichen Wirklichkeit eine utopische Potenzialität entdeckt, die er nicht unerwähnt lassen konnte.

Dass es sich beim Verfasser von »Libertalia« wirklich um Daniel Defoe handelt, darf aber bezweifelt werden. Defoe hatte 1719 mit »Robinson Crusoe« einen Roman vorgelegt, der dem entstehenden Kapitalismus und seiner kolonialen Expansion ein literarisches Denkmal setzte. Durch die individuelle Selbstverwirklichung eines Händlers auf einer Insel inklusive der Versklavung eines Menschen wird der Anspruch auf die Kartographierung, Inwertsetzung und koloniale Beherrschung noch des letzten unentdeckten Winkels der Erde ausgedrückt. »Libertalia« erzählt dagegen von der kollektiven Aufkündigung eines Herrschaftsverhältnisses. Denn die Mannschaftsmitglieder von Captain Mission »würden sich keinen anderen Regeln unterwerfen als denen, die für das Wohlergehen aller nötig seien.« Als Narrativ sedimentierte der Text die Piraterie so als widerständige und herrschaftskritische Praxis. Egal, ob »Libertalia« einen Funken historische Wahrheit besitzt oder nicht - den Mythos des Piraten als frühneuzeitlichen Rebellen, wie wir ihn heute kennen, hat die Erzählung wirkmächtig mitgeprägt.

Daniel Defoe: »Libertalia«, Matthes und Seitz, 238 S., geb., 22,90 €. Peter Linebaugh + Marcus Rediker: »Die vielköpfige Hydra«, Assoziation A, 432 S., geb., 28 €.

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