Die verlorenen Kinder
Die Religionslehrerin Lamya Kaddor klagt an
Sie schockieren mit plötzlichem religiösem Eifer, kultivieren arabische Frömmigkeitsfloskeln und verschwinden dann in den sogenannten Heiligen Krieg. Was bringt deutsche Jugendliche dazu, sich der Terrormiliz »Islamischer Staat« anzuschließen? Wer sind die, die sie dazu verführen? Die Lektüre von Lamya Kaddors Buch »Zum Töten bereit« zeigt: Es handelt sich auch um einen Generationenkonflikt.
Seit Jahren unterrichtet die auch aus den Medien bekannte Islamwissenschaftlerin Religion in Dinslaken, einer Zechenstadt bei Duisburg. Fünf ihrer Schüler schlossen sich im vergangenen Jahr der »Lohberger Brigade« an, die mit zwanzig Dschihadisten in Syrien vertreten ist. In ihrem Buch erzählt sie, was die Jugendlichen aus dem Duisburger Stadtteil dazu trieb - und dass glücklicherweise vier zurückkehrten, von denen nur noch einer »dem Irrglauben anhängt«. In gut lesbaren Essays versucht sie, Soziogramme der Familien, der muslimischen Communities in Deutschland und der Mehrheitsgesellschaft zu zeichnen.
Lohberg ist ein kleinbürgerlicher Stadtteil, in der nachmittags die Jugendlichen auf dem Marktplatz abhängen. Bildungsschwache und mittellose Haushalte sind nach der Schließung der Zeche in der Überzahl, Raub und Drogengeschäfte schon unter Schülern weit verbreitet. Ein großer Teil der in den 1960er Jahren als Arbeiter angeworbenen türkischstämmigen Bevölkerung pflegt ein konservatives Islamverständnis und - nach den Erfahrungen Kaddors - einen Erziehungsstil, der auf Gehorsam, Unterwerfung und Angst setzt. Die Barmherzigkeit Gottes, die die Religionslehrerin in den Mittelpunkt des Islam stellt, sei ihren Schülern, die sich zumeist als »religiös« bezeichnen, unbekannt: »Für sie ist Gott ausschließlich strafend und nicht gerecht.« Ihre Religiosität, persönliche Enttäuschungen und Ausgrenzungserfahrungen waren 2012 lohnende Anknüpfungspunkte für einen jungen Salafisten aus dem Ort. Er klärte sie über den »wahren« Islam auf, vermittelte ihnen Wertschätzung und versprach eine feste Gemeinschaft unter »Brüdern«. So agitierte er die spätere »Brigade«.
Vorboten gab es bereits 2006. Salafisten trafen sich in den beiden örtlichen Moscheen. Schüler erzählten Kaddor fasziniert vom Auftritt eines Predigers in der Moschee des türkischen Dachverbandes DITIB, der in »deutscher Jugendsprache« vom »wahren« Islam gesprochen habe: Pierre Vogel, ein charismatischer Konvertit aus Bonn. Seine Predigten radikalisierten viele der inzwischen 600 nach Syrien ausgereisten Dschihadisten. Inzwischen sind Philip B. und Mustafa K. aus Dinslaken-Lohberg tot.
Kaddor nimmt alle in die Pflicht: Eltern, die für die emotionalen Defizite dieser Kinder verantwortlich sind, den Staat, der den islamischen Religionsunterricht zu organisieren hätte, und die Moscheen, die weiterhin ausschließlich nach der ersten Gastarbeitergeneration schielen. Die Korankurse, in denen Kinder arabische Buchstaben und Wörter auswendig lernen, aber nicht verstehen, können kaum Basis für einen reflektierten Glauben sein, so Kaddor. Auch die muslimischen Dachverbände bekommen ihr Fett ab. Zu monolithisch sei ihr Islamverständnis. Den Salafismus hätten sie verkannt. Und sie distanzierten sich auch jetzt nicht glaubwürdig - nicht zuletzt wegen der drohenden Kritik von der eigenen Basis, die »zumindest ähnlich fundamentalistische« Positionen wie die Salafisten vertrete. Man solidarisiere sich lieber mit den Salafisten, nur um sich nicht der Meinung der Mehrheitsgesellschaft anschließen zu müssen. Dies ist Fundamentalkritik, die umso mutiger ist, als die Islamwissenschaftlerin weiß, dass sie auch von falscher Seite, von Pegidisten und anderen Rettern des Abendlandes, missbraucht werden wird.
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