Revolutionär mit Widersprüchen

Eine neue deutschsprachige Biografie versucht, Malcolm X als Ikone auf die Spur zu kommen

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Bunt sieht er aus, dieser heruntergelassene Rollladen eines Bekleidungsgeschäfts, an dem sich vor Jahren ein politisch ambitionierter Künstler verwirklicht hat. In kurvig-roten Lettern begrüßt ein Schriftzug die Gäste in jenem New Yorker Viertel, das als Zentrum afroamerikanischer Kultur gilt: »Welcome to Heavenly Harlem« (»Willkommen im himmlischen Harlem«). Inmitten des Bildes schwebt der engelsgleich lächelnd über den Wolkenkratzern der Metropole thronende Nelson Mandela, der drei mit goldenen Lorbeeren umrahmte Porträts in Händen hält. Darauf zu sehen: US-Präsident Barack Obama, der Baptistenpastor Martin Luther King jr. - und Malcolm X, den Britta Waldschmidt-Nelson im Untertitel ihrer soeben erschienenen Biografie als »schwarzen Revolutionär« bezeichnet. Vier Ikonen auf einen Blick, anmutend wie eine »Wall of Fame« des Kampfes für die Rechte der Schwarzen.

Alle aus diesem Quartett ließen sich aus guten Gründen aus der Ruhmesreihe katapultieren. Was hatte etwa Mandela mit dem Kampf gegen Rassismus in den USA zu tun? Was sucht ein US-Präsident in dieser Riege, der Whistleblower verfolgt, massenhaft Drohnenangriffe befiehlt und sich Folterknäste in rechtsfreien Räumen hält? Was soll hier mit King ein christlicher Würdenträger, der Gewaltfreiheit predigte? Am unwohlsten in dieser Runde würde sich aber zweifellos Malcolm X fühlen. Obama wäre für ihn kaum mehr als ein »Haussklave«, ein Weißer im Gewande eines Schwarzen. An Mandela als Staatsmann hätte Malcolm wiederum dessen versöhnlerische Haltung kritisiert, die er bereits zu Lebzeiten an King bemängelte. Das Dogma der Gewaltlosigkeit machte Letzteren für Malcolm sogar zur »besten Waffe, die der weiße Mann je bekommen hat«.

Denn auch wenn er längst durch den Mainstream zum neoliberal gescheitelten Mythos des friedlichen Widerstands vereinnahmt worden ist, war die Botschaft des Malcolm X doch alles andere als sanft. Er wollte nichts weniger als eine Revolution der unterdrückten schwarzen Minderheit in den USA, die sich nach seiner Auffassung nur radikal, bewaffnet und gewaltsam aus dem Joch des Rassismus würde befreien können. Anders als eng mit dieser Botschaft verbunden wäre Malcolms Aufstieg zum Medienstar ab Ende der 1950er Jahre überhaupt nicht denkbar.

Geschah dieser doch in scharfer Abgrenzung zur gleichzeitig aktiven schwarzen Bürgerrechtsbewegung mit besagtem Martin Luther King an der Spitze. Waldschmidt-Nelson widmet sich dieser Dimension im politischen Aktivismus des Malcolm X besonders akribisch. All die als »ziviler Ungehorsam« sich gebenden und als »systemischer Gehorsam« sich entpuppenden Proteste der King-Jünger spiegelt die Autorin in der sarkastischen Sichtweise ihres Titelhelden. So sei die Aufhebung der Rassentrennung für ihn ein trügerisches Ziel gewesen, »das die fuchsschlauen weißen Liberalen ihren braven schwarzen Verbündeten untergejubelt hätten, um diese davon abzuhalten, die wahren Ursachen der weißen Vormachtstellung zu erkennen«.

Kings Anlehnung an die Methoden des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi hielt Malcolm demnach für grundlegend falsch. Während die unterdrückten Inder ihren britischen Herrschern zahlenmäßig weit überlegen gewesen seien und Gandhi zudem die nationale Karte gegen die ausländischen Besatzer spielen konnte, habe King keine Chance, gewaltlos gegen die rassistische weiße Mehrheit anzukommen: »Gandhi war ein großer dunkler Elefant, der auf einer kleinen weißen Maus saß. King ist eine kleine schwarze Maus, die auf einem großen weißen Elefanten sitzt.« In der christlichen Idee der Feindesliebe, die in der Geschichte schon häufig als Waffe zur Herrschaftsstabilisierung taugte, sah Malcolm das nötige »Betäubungsmittel, das die Schwarzen ruhigstelle und gefügig mache«.

Malcolm X als kluger Ideologiekritiker: Das war die eine Seite des rhetorisch hochbegabten Revolutionärs, die die Autorin zu Recht stark macht. Sie vergisst aber nicht, auch die Kehrseite dieser ganz und gar widersprüchlichen Persönlichkeit zu beleuchten. Als fundamentalistischer Muslim und offizieller Vertreter der sektenähnlichen »Nation of Islam« vertrat er bis wenige Jahre vor seiner Ermordung ein reaktionäres Gesellschaftsbild. Homosexualität, Ehebruch oder den Konsum von Alkohol lehnte er ebenso ab wie sogenannte »Mischehen« zwischen Schwarzen und Weißen. Letztere hielt er lange Zeit gar generell für »blauäugige Teufel«, mit denen kein Schwarzer je gemeinsame Sache machen dürfe.

Er sah keinen Unterschied zwischen den »liberalen« Weißen im Norden, die sich für die Integration der Schwarzen einsetzten, und den »konservativen« Weißen im Süden, die den Erhalt der Rassentrennung forderten. Die einen verglich er mit einem Wolf, der den Schwarzen gegenüber offen seine Feindschaft und seine Zähne zeige, wohingegen die anderen eher einem Fuchs ähnelten, der freundlich tue, dabei jedoch seine Zähne und Gier mit falschem Lächeln tarne.

Wer so viel Abneigung verstehen will, muss sich neben der durch am eigenen Leib erfahrenen Rassismus geprägten Lebensgeschichte des Malcolm X auch vor Augen halten, in welchem Zustand sich die Vereinigten Staaten in den 1960er Jahren befanden. Bis Mitte des Jahrzehnts waren Schwarze in den Südstaaten vom Wahlrecht ausgeschlossen. In allen Bereichen des öffentlichen Lebens - von den öffentlichen Toiletten über den Nahverkehr bis hin zu Schulen - herrschte strikte »Rassentrennung«. Viele Motels, Restaurants oder Kinos durften Schwarze nicht betreten. Es gab regelmäßig Fälle, in denen Schwarze starben, weil ein Krankenhaus sich weigerte, sie aufzunehmen.

Letztlich, betont Waldschmidt-Nelson an mehreren Stellen, waren es wohl gerade die Radikalität und Kompromisslosigkeit des Malcolm X, die den weißen Rassismus auf das heutige Maß einzudämmen halfen. Im Vergleich zum kampfbereiten Malcolm erschien der in der aktuellen Hollywood-Kinoproduktion »Selma« glorifizierte Martin Luther King als weitaus weniger gefährlich. Dessen Ziele zu unterstützen, schien den Mächtigen - wie von Malcolm vorausgesagt - taktisch am klügsten, um dem wirklich radikalen, dem Grundübel des Rassismus an die Wurzel gehen wollenden Malcolm X den Zahn ziehen zu können.

Auch wenn er am Ende seines Lebens, nachdem er sich von der »Nation of Islam« losgesagt hatte, dem »weißen Mann« doch noch die Hand reichte, war es doch der wilde, aufrührerische, gewaltbereite Malcolm X, der den Zielen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu ihrem Teilsieg verhalf. Im klassisch dialektischen Sinne erscheint jenes an der Harlemer »Wall of Fame« zu bestaunende Nebeneinander zumindest der beiden Ikonen des schwarzen Widerstands in den USA damit doch noch stimmig. Es zwingt zu einer ebenso unmissverständlichen wie jeden radikalen antirassistischen Aktivismus ermutigenden Erkenntnis: Wer die Erfolge Martin Luther Kings preist, darf von der kompromisslosen Haltung des Malcolm X nicht schweigen.

Britta Waldschmidt-Nelson: Malcolm X. Der schwarze Revolutionär. Verlag C.H. Beck, München 2015. 384 S., br., 18,95 €.

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