Intensivleben
Eine Erzählung. Von Dirk Werner
Wenn du anderen sagst, du hättest jüngst vier Tage auf der Intensivstation gelegen, sperren sie Augen und Ohren auf. Dabei stimmt es nicht. Es waren nur dreieinhalb. Wenn du fortfährst, du würdest dort eine achtundvierzigstündige Multimediashow erlebt haben, feinst durchkomponiert und trefflich inszeniert, folgt erst recht Schweigen. Den Engeln war ich ganz nahe. Sagst du, worauf das Stummsein deiner Zuhörer noch beredter wird. Dabei ist es diesmal die Wahrheit, die ganze Wahrheit.
Das Wort Multimedia gehört keinesfalls hierher. Es war ein Mit- und Ineinander von Bildern und bewegten Bildern, genial ergänzt durch virtuos Akustisches und sphärisch Hohes wie Tiefes, das dir widerfuhr. Oder das du widerfahren ließest? Das ist die Frage. Während es dem Film selbst, in dem du von der Straße fort gerettet, zur Notaufnahme tatütatatet und von dieser intraklinisch weiter zur Intensivstation ins Bett transportiert wurdest, an den längsten seiner Sequenzen mangelt. Viel Schwarzfilm sozusagen und zwischendurch - du bist Nostalgiker und kein Digitalliebhaber - zerkratztes Zelluloid. Jedoch um dieses Drama geht es hier nicht.
Bevor du indes dein intensives inneres Leben (das für dich gleichsam ein äußeres war) während der Stunden im Bett genauer zu erzählen suchst, sei mindestens zweierlei unbedingt vorangestellt. Zum einen hast du nie solche Dankbarkeit empfunden. Schon innerhalb der Stunden, in denen du nur halb noch ins Diesseits hin-überreichtest, ganz gewiss. Aber auch darnach bis auf die heutige Stunde, du empfindest Dankbarkeit. Den Krankenschwestern und den Krankenpflegern gegenüber. Den Ärzten und Ärztinnen. Den Frauen gegenüber, die kamen, das Zimmer zu reinigen. Gegenüber genauso den Rettungssanitätern und vor allem den Menschen, die dich allesamt besuchen kamen, bist du dankbar. Du fühlst: Demut. - Keine Angst, sie soll keinesfalls gepredigt noch ausführlich beschrieben werden. Du willst einfach nur sagen, dass es das gibt.
Wie es andererseits auch einen längst vergessenen amerikanischen Film gab, an den du dich beim Schreiben erinnert fühlst. Hauptperson ist ein Choreograph einer Tanztruppe. Innerlich ist er einzig und allein sich selbst - und seiner Kunst - verpflichtet. Er ist der Kopf der Truppe und mit ihr erfindet er getanzte Wirklichkeit. Dann erleidet er den Herzinfarkt. Alles, was er danach erlebt, zum Beispiel geschoben auf dem Weg zum Operationssaal, wird in seinem Hirn ebenso zu ernstem Spiel, wie es vorher die Ideen zu jeder einzelnen tänzerischen Bewegung wurden. Er beobachtet. Alles Gesehene, Erlebte verflicht sich mit der Phantasie und seinem Willen zu inszenieren, zu Kunst, zu Höherem und Anderem als bloßem Leben und Tod. Davon verstandest du damals wenig. Erst jetzt, in den zurückliegenden Tagen, bei Spaziergängen im Klinikgelände und auf dem nahen Friedhof, hast du begriffen.
Doch jetzt beginne. Fange an zum Beispiel damit, dass es nicht bloß alltägliche und auch nicht bloß aufgeblasene Wolkengebilde waren, die das Himmelsblau vor den Intensivstationszimmerfenstern unterquerten. Unaufhörlich und wie an unsichtbaren, himmlischen Schnüren zog das erste ein kommendes und jenes wiederum das nächste hinter sich drein. Den einzigartig schönen Reigen bildeten Frauenkörper ebenso wie Männerkörper. Torso, Brüste, Phallus und fallende Gesichter schwebten an dir in Leichtigkeit und bester Abwechslung vorüber, indessen sie sich weiter veränderten und neu und anders gestalteten. Kein Wölkchen, das nicht Figur wurde. Kumulus keiner, der nur Statist sein wollte. Dass jemand sich daran machte und den Himmel bildnerisch derart gut organisierte! (Dass du es selbst warst oder etwas in dir, konntest du derweil nicht annehmen. Es war einfach zu göttlich.)
Hattest du alles einmal über und schlossest die Augen, was ja in den ersten Stunden im Intensivbett schnell der Fall war, kam es in den Lidern zu wunderbaren Abfolgen von Ornamenten. Woher, wohin immer sie schwebten, du brauchtest ihnen einzig im Geiste nachzufolgen oder entgegen zu gehen. Dann und vor allem: wieder und wieder große, beeindruckende Schwarz-Weiß-Fotos an der Innenseite deiner Augendeckel. Meist klassische Kompositionen. Was das Gefühl erzeugte, du hättest das Bildermeiste schon in deinem Leben gesehen. Aber sie entstanden ja erst im Anschauen, wuchsen förmlich erst aus dem Betrachten selbst heraus: Hymnus nicht-menschengemachter, vorirdischer Lichtbildnerei. (Und mit der Fotografie hast du dein Lebtag himmlische Stunden erlebt.) Der Gang durch die nie endende Galerie ließ dich nicht, nahm dich fort und fort. Man offerierte ihn deinen nicht offenen Augen, öffnete dir die Gucklöcher, indem einzig sie dafür geschlossen bleiben mussten.
Tage später dachtest du nicht allein an den Film aus den achtziger Jahren, sondern auch an einen Halbkreis aus derselben Zeit. Die Grafik in jenem halbrunden Umriss zeigte in Leo Navratils Buch »Die Federzeichnungen des O.T.« das sogenannte Wahrnehmungs-Halluzinations-Kontinuum. Nichts Genaueres vermagst du noch darüber zu sagen. Doch du erinnertest dich, dass die linke Diagrammseite eine durch nichts getrübte Wahrnehmung eines Menschen repräsentierte (falls sie existiert), während zur rechten Halbkreisseite hin die Kraft der eigentlichen Sinneseindrücke mehr und mehr nachließ - zugunsten einer völlig erfundenen und sich erfindenden Welt. Oder zugunsten ungebundener, zweckfreier, niemandem oder höchstens dem Halluzinierenden selbst sich offenbarender Kreativität. Diese sich immerfort neu veranlassende Schöpferei also war’s, die intensiv das Kommando in dir übernahm. Der vollkommene Traum (verbunden mit dem Wissen, dass du träumst), dieses somnambul Inszenatorische als Ideal vieler Regisseure hatte sich deiner bemächtigt. Die äußeren Erscheinungen waren nur noch Material, dessen Art und Herkunft beliebig - ein bunter Urschleim, allein für einige Zitate im Gesamtwerk noch tauglich und gut genug.
Wird es im Himmel Popmusik geben? Wenn man sie dort vernimmt, kann es sich nicht um den Himmel handeln, sondern nur um eine mindere Vorstufe. Denn noch extensiver und intensiver als im Optischen ging es in den Krankenbettstunden akustisch zu. Ward je ein solches Engelläuten, Glockenläuten, Schafherdenläuten, Leitziegenbockläuten, Sankt-Nimmerleins-Tag-Läuten, Telefonklingeln und Handysimmeln auf einmal vernommen? - Natürlich fürchtetest du in klareren Momenten nicht nur die dir zu dem Zeitpunkt schon bewussten Ausfälle in deinem Körper, sondern dazu einen beidseitigen Tinnitus. Aber andererseits war das Innere deiner Lebenskapelle nun zusätzlich akustisch völlig ausgemalt. Zu den Wolkenwüchsen spielten dir gleich mehrere Fern- und Fremdensembles in Dia- und Multilogen miteinander auf. Physiognomisierung und Beseelung, wo du nur hinsahst und hinlauschtest. Wie sonderbar das. Du konntest niemand Vertrauten hin in diese Welt einladen.
Jedem dem Sterben oder dem baldigen Leben nahen Patienten auf der Intensivstation steht per Knopfdruck ein ganz eigenes, einfaches akustisches Signal zur Verfügung. Mit dem er die genau für ihn zuständige Schwester zu sich rufen kann und mittels dessen Hilfe er sich gleichzeitig von allen anderen Himmel-Hölle-Reisenden hier unterscheidet. Jeder Helfer soll sofort zu genau seinem Hilfesuchenden hin geleitet werden. Für dich (durch dich: durch die Lust in dir, alles nur zu Erlauschende in einen einzigen ästhetischen Zusammenhang hinein zu ordnen) entstand in Hirn und Ohren eine Symphonie aus allen Klängen, herkommend von den höchsten Nöten der Mitpatienten. Jenes DAS, bestehend aus dem Gewebe von allen Geräuschen, riss nicht, ebbte nur, verschwand unter der Oberfläche und erstand neu, war Sphären und Auferstehung; der Gesang endgültiger Absturzwiedergeburt. Hallejujah. Hallejuhah. Dein Ende war eingeläutet, überzeugend unabweislich herrlich. Nur trugen die Glocken in der großen Klangkreuz- und -querverwandtschaft (es gab kleine, leise darin und es gab größere, lautere, durchmischt auch noch mit dem Läuten eines Kirchturms draußen) nicht nur den schwer-düsteren Ton des Endgültigen in sich. Als wäre dies Endgültige etwas nicht Endendes gleichzeitig, Ewigkeit. Als wärest du auf dem Weg des Abschieds, der aber, für alle Ewigkeit, niemals aufhören würde: Das zu höchst Erhabene war im selben Moment grausam, grotesk, ein hohes Lächeln grinsend. -
Du warst Mischwesen aus den Inkarnationen Telemanns und Goyas, hörtest von Ferne eine Prozession zu Zeiten der Inquisition und erprobtest dich indessen in barocker Deckenmalerei. Du hast dies alles auf einem dir fremden wie auch auf einem uralt-vertrauten Weg zu anderer Physis und Psyche gelebt.
Da fällt dir abermals der amerikanische Choreograph auf der Trage im langen Gang zum Operationssaal ein. Ohne dass du darüber dachtest, kam jetzt doch noch die richtige Formulierung für das vorhin Geschriebene zu dir: Sogar der Tod, das eigene Sterben wurden ihm zur Kunst. Für dich selbst jedoch gilt, dass die ex-treme Situation deine größten schöpferischen Kräfte rief, dich, nur dich, glücklich zu machen. Glücklich auf der Intensivstation.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.