Reformer mit Charisma

  • Axel Eichholz, Moskau
  • Lesedauer: 2 Min.

Niemand habe sich noch am Vortag vorstellen können, dass der Oppositionsführer Boris Nemzow an der Kremlmauer umgebracht werde, sagte der russische Ex-Regierungschef Michail Kasjanow, der sofort zum Tatort geeilt war. Zusammen mit Nemzow führte er den Vorsitz in der Oppositionspartei RPR-PARNAS. Diese demonstrative Aktion habe alle Freidenker Russlands einschüchtern sollen.

Vor zwei Wochen hatte Nemzow in einem Interview die Befürchtung geäußert, Wladimir Putin könnte ihn umbringen lassen. Der Präsident ließ nun über seinen Sprecher Dmitri Peskow verbreiten, bei der Bluttat vom Freitag handle es sich um einen Auftragsmord und eine Provokation. »Bei allem Respekt für das Andenken Boris Nemzows, er stellte in politischer Hinsicht keine Gefahr für Wladimir Putin dar«, sagte Peskow. Wenn man dessen Popularitätsraten mit denen Putins vergleiche, »so war er nur ein bisschen mehr als ein Normalbürger«.

Gefährdete Opposition
Boris Beresowski: Der russische Oligarch und einstige Multimillionär wird im März 2013 tot in seinem Haus in Ascot bei London aufgefunden. Er galt als Intimfeind von Präsident Wladimir Putin und unterstützte die russische Opposition finanziell. Im März 2014 erklärt ein Richter, es könne nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob er sich das Leben nahm oder getötet wurde.   Sergej Magnitski: Der schwer kranke Anwalt stirbt im November 2009 qualvoll in seiner Gefängniszelle, ohne dass Ärzte ihm helfen. Er war wegen angeblicher Steuervergehen in Untersuchungshaft, nachdem er massive Korruptionsvorwürfe gegen Behörden erhoben hatte. Menschenrechtler sowie Hinterbliebene werfen den Behörden vor, ihn gefoltert zu haben.   Natalja Estemirowa: Die Menschenrechtsaktivistin wird im Juli 2009 in der russischen Konfliktregion Nordkaukasus erschossen aufgefunden. Die Mitarbeiterin der Organisation Memorial galt als Kämpferin für die Menschenrechte im Nordkaukasus. Mit kritischen Berichten über das Verschwinden von Zivilisten in Tschetschenien hatte sie sich wiederholt den Zorn der moskautreuen Machthaber zugezogen.   Anastasija Baburowa und Stanislaw Markelow: Die 25-jährige oppositionelle Journalistin und der 34-jährige Menschenrechtsanwalt werden im Januar 2009 nach einer Pressekonferenz in Moskau auf offener Straße erschossen.   Alexander Litwinenko: Der russische Ex-Geheimdienstmitarbeiter stirbt im November 2006 in einem Londoner Krankenhaus. Er war kurz vorher vermutlich beim Teetrinken in einem Hotel mit dem hochgiftigen, radioaktiven Polonium 210 vergiftet worden. Im Sterben macht er Kremlchef Wladimir Putin für seinen Tod verantwortlich.    Anna Politkowskaja: Die Journalistin und Regierungskritikerin wird im Oktober 2006 in Moskau erschossen. Sie hatte für die kremlkritische Zeitung »Nowaja Gaseta» vor allem aus der Teilrepublik Tschetschenien über Menschenrechtsverletzungen durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte berichtet. 2014 verurteilt ein Moskauer Gericht fünf aus Tschetschenien stammende Männer zu langjährigen Strafen. Die Drahtzieher sind bis heute nicht bekannt.   Sergej Juschenkow: Der 52-jährige Parlamentsabgeordnete und Chef der Partei Liberales Russland wird im April 2003 vor seiner Wohnung in Moskau erschossen. Bei dem Mord an dem ehemaligen Verbündeten von Boris Beresowski wird ein Schalldämpfer verwendet. Agenturen/nd

Dabei passte auf Nemzow das Beiwort »brillant« in jeder Beziehung. Der studierte Physiker hatte zunächst in einem Forschungsinstitut gearbeitet, bevor er noch in der Endzeit der Sowjetunion 1990 zum Abgeordneten gewählt wurde. Nach der Wende schlug er sich zu den liberalen Reformern und wurde im ungewöhnlich jungen Alter von 31 Jahren 1991 der jüngste und erfolgreichste Gouverneur Russlands in Nischni Nowgorod. Die Region und ihre Hauptstadt, der frühere Verbannungsort Gorki, galten rasch als Vorzeigeregion erfolgreicher marktwirtschaftlicher Reformen.

1997 holte der damalige Präsident Boris Jelzin ihn als Vizeregierungschef nach Moskau. Für kurze Zeit erklärte Jelzin seinen Liebling sogar zu seinem designierten Nachfolger, bis seine Umgebung ihn zwang, diese Entscheidung zurückzunehmen.

Boris Nemzow war eine charismatische Figur. Nach Putins Machtantritt ging er in die Opposition. Im Spätherbst 2013 zeigte er sich auf dem Kiewer Maidan, um die ukrainische Demokratiebewegung zu unterstützten. Politiker jeder Couleur und namhafte Künstler wie die Popkönigin Alla Pugatschowa zählten ihn zu ihren Freunden.

Frauen flogen ihm zu, und er hatte vier Kinder von drei verschiedenen Müttern, die er als seine »Großfamilie« behandelte. Andere Freundinnen fanden kaum Erwähnung. Am Freitagabend hatte der 55-Jährige mit dem 23-jährigen Kiewer Modell Anna Durizkaja in einem Restaurant gegenüber dem Lenin-Mausoleum am Roten Platz gegessen und beide schlenderten anschließend an der als Wahrzeichen Moskaus bekannten Basilius-Kathedrale vorbei zu der Großen Moskwa-Brücke. Dort fielen eine knappe halbe Stunde vor Mitternacht die tödlichen Schüsse.

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