Reale Probleme und wahrhafte Wunder
Fadhil al-Azzawi: Sein Roman »Der Letzte der Engel« spielt in Kirkuk und Bagdad
Wenn irgendjemand Hoffnung vermitteln kann, da wo es keine Hoffnung mehr zu geben scheint, dann die Dichter. Fadhil al-Azzawis erster Roman »Der Letzte der Engel« erschien im arabischen Original bereits 1992 und liegt nun in einer wunderbaren Übersetzung von Larissa Bender auch auf Deutsch vor. Er ist aktuell wie nie. In einer Zeit, in der die Terrormiliz »Islamischer Staat« Jagd auf die Jesiden in Irak macht, ein weiterer Völkermord und Krieg drohen, kann es gar nicht genug Geschichten geben, die daran erinnern, dass es auch anders gehen kann, dass ein Zusammenleben von Religionen, Ethnien und Ideologien durchaus möglich ist, wenn man nur will. Bei al-Azzawi ist es der immer wieder unvermittelt auftauchende Tod - in der Gestalt des Darwusch Bahlul - der an die Notwendigkeit friedlicher Toleranz mahnt, ohne sich zu erkennen zu geben. Sterben als ultima ratio sozusagen. Aber wie weit der Weg zum »Letzten der Engel« ist, bestimmt jeder selbst.
Die zauberhaft miteinander verwobenen Episoden dieses Buches spielen in Kirkuk und Bagdad in den 1950er Jahren. König Faisal II. regiert (wenn auch nur kurz, dann wird er ermordet), es herrscht Korruption, doch auch Harmonie. Im Zentrum der Geschichte steht das eher arme Stadtviertel Chukor, dessen Bewohner mit allerlei realen Problemen und wahrhaften Wundern fertig werden müssen. So widmen sich die einen, darunter Hamid Nylon, der Gründung einer Gewerkschaft, um sich gegen die Ausbeutung durch die britische Ölfirma vor Ort zu wehren, während sich Chidr Musa auf den Weg nach Russland macht, um seine dort im Ersten Weltkrieg verschollenen Brüder zu suchen. Mullah Zain al-Abidinal al-Qadiri bemüht sich um das Wohl der Muslime und um die Mehrung seines Reichtums, derweil Polizeikommissar Hussein al-Nasiri Jagd auf Kommunisten macht, also auf jeden, der die Regierung kritisiert. Ansonsten gibt es, vom alltäglichen Geplänkel abgesehen, wenig Streit zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen.
Die Gemüter kochen hoch, als die Ölfirma eine Straße durch den Friedhof in Chukor bauen will. Noch während eine Delegation des erfolgreichen Russlandrückkehrers Chidr Musa sich in Bagdad beim König, von dem sie sich Hilfe gegen die Pläne der Wirtschaftskolonisatoren aus England erhoffen, um eine Audienz bemüht, bricht im Viertel ein Aufstand aus. Ihr Opfer wird der ehemalige Sklave Qara Qol, der im falschen Moment auf dem Stuhl vor seinem Laden sitzt und von einer Polizeikugel getroffen wird. Der im Leben eher als Hallodri bekannte Barbier wird so zum Märtyrer - und als Zeugen noch sehen, wie er aus dem Grab in den Himmel aufsteigt, sogar zum Heiligen, dem ein eigenes Mausoleum gewidmet wird. Der Mullah macht Karriere als Generaldirektor der neuen »Touristenattraktion« in Kirkuk, und Hamid Nylon, der so heißt, weil er in Leidenschaft zur Gattin seines Chefs entbrannte und ihr Strümpfe schenkte, schickt sich an, eine Revolution zu starten.
Diesen Roman zu lesen, gleicht einer magischen Reise in die Welt orientalischer Märchenerzählkunst. Al-Azzawi, der Poet, ist ein begnadeter Romancier, dem es gelingt, fantastische Geschichten von Dschinns und Zaubergeistern mit der traurigen, blutigen, spröden und manchmal unfreiwillig komischen Realität im Nahen Osten zu verbinden. Ein Mahner, dessen Worte 1992, als dieses schöne Buch entstand, ebenso wichtig waren wie heute.
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