Entsetzliches Schauspiel, monströse Barbarei

Christian Dirks und Hermann Simon studierten Diplomatenberichte zum Novemberpogrom 1938 in Deutschland

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit der Münchener Historiker Hermann Graml 1955 einen Überblick über die Geschichte des antijüdischen Pogroms vom 9./10. November 1938 in einem kaum mehr als ein halbes Hundert Seiten umfassenden Bändchen gab, ist die Literatur über das Verbrechen enorm angewachsen und wächst weiter an. In Stadtgeschichten wird das Geschehen jener Nacht und des darauffolgenden Tages dokumentiert. Begleitbände von Ausstellungen halten es fest. Verfolgte und Beobachtende erinnern sich.


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* Christian Dirks/ Hermann Simon (Hg.) Von innen nach außen. Die Novemberpogrome 1938
in Diplomatenberichten aus Deutschland.
Metropol. 223 S., geb., 24 €.


Nun haben zwei Historiker eine weitere Lücke geschlossen. Christian Dirks und Hermann Simon sind der Frage nachgegangen, was die im «Reich» akkreditierten Diplomaten wahrnahmen, an die jeweiligen Regierungen berichteten und welche Reaktionen sie vorschlugen. Durchmustert wurden hierzu die Archive von 20 Staaten, darunter aller damaligen Großmächte sowie Japan und Italiens, die Verbündeten Deutschlands. Südamerika ist durch Brasilien und Kolumbien vertreten, der Balkan durch Bulgarien, das Baltikum durch Litauen. Den nach den Ländernamen alphabetisch geordneten Berichten sind in stenografischer Kürze Angaben über die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen des jeweiligen Landes zu Deutschland bis zum Kriegsende 1945 vorangestellt. Darauf folgen Informationen über die Karrierewege der berichtenden Botschafter, Geschäftsträger und Konsuln.

Die Diplomaten sind - teils aufgrund eigener Beobachtungen in Berlin, Frankfurt am Main, München, Breslau und Innsbruck - durchweg gut unterrichtet über die Zerstörungen von Geschäften und Wohnungen, Plünderungen und Inbrandsetzung der Synagogen sowie Gewalttaten bis hin zu Verhaftungen und Mord. Charakterisiert und identifiziert werden in ihren Berichten die Täter, beschrieben die Rolle der Polizei und das Verhalten der Bevölkerung, das vom Mittun bis zur Hilfe für die Verfolgten reicht, aber - bis heute - nicht verlässlich quantifiziert werden kann. Mehrfach wird auf die Teilnahme von Schulkindern an den Untaten verwiesen. Nahezu einhellig ist die Verurteilung des Pogroms; die Ausnahme macht der Botschafter Irlands, der seiner Regierung gegenüber das Pogrom mit faschistischen Phrasen rechtfertigt.

In der Schärfe der Urteile unterscheiden sich die Texte dennoch. Sie reichen von «antisemitischer Vandalismus» (Vatikan), «grausame Judenpogrome» (Lettland)« bis hin zu »entsetzliches Schauspiel« (Kolumbien). Der kolumbianische Botschafter, der das Pogrom nächtens auf dem Kurfürstendamm beobachtet hatte, geriet am nächsten Morgen, beim Fotografieren der Schäden, gar in Konflikt mit der Polizei.

Aus den Berichten des US-Konsulats in Stuttgart entsteht ein eindrucksvolles Bild des Ansturms von schutz- und hilfesuchenden Juden, dem sich dessen Mitarbeiter tagelang ausgesetzt sahen. Die US-Diplomaten erwarteten eine entschiedene politische Antwort Washingtons angesichts des »gnadenlosen Umgangs« mit Menschen; es genüge nicht eine verbale Verurteilung.

Der zitierte Passus aus dem Bericht des sowjetischen Geschäftsträgers enthält Beobachtungen und Erwägungen zu den denkbaren Folgen des Pogroms auf das Verhältnis der USA und Großbritanniens zu Deutschland und widerspiegelt das permanente Interesse Moskaus, dass die kapitalistischen Großmächte - das Münchener Abkommen lag nur wenige Wochen zurück - sich nicht zu einer antisowjetischen Front zusammenfinden.

Der Band ist reich bebildert, bietet vor allem Fotografien der Verwüstungen und Brandschatzungen, reicht aber mit Porträts der Diplomaten und ihrer deutschen Partner darüber hinaus. Manche sollen die Beziehungen zwischen den Staaten und dem Deutschen Reich markieren. Zu ihnen gehört das bekannte Foto von der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrages im September 1939. Warum wird nicht ebenso ein Bilddokument von der Münchener Konferenz geboten? Eine gewisse Korrektur erfolgt im den Band beschließenden informativen Aufsatz über die internationale Presseberichterstattung über den 9./10. November 1938 in Deutschland (Christoph Kreutzmüller, Bjoern Weigel). Wie andere Zeitungen hätten auch die sowjetischen das Verbrechen mit den Verbrechen der Hunnen, des Dreißigjährigen Krieges, der Bartholomäusnacht und des türkischen Genozids an den Armeniern verglichen. In sowjetischen Blättern erschienen Karikaturen von Nazis mit Messern im Mund. Dimitri Schostakowitsch prangert in einem Aufsatz die »monströse Barbarei« an. Es erscheint den Autoren indes als »seltsam, dass außerhalb der Sowjetunion kaum eine Zeitung die vielen Toten der Pogrome - ob ermordet oder in den Selbstmord getrieben - erwähnte«. Seltsam? Beachtenswert!

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