Als man mit indischen Stoffen in Afrika Sklaven für Amerika kaufte

Sven Beckert beschreibt am Beispiel der Baumwolle die Entstehung des Weltmarktes und Kapitalismus als ein globales System

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine der großen Historikerfragen lautet, warum der Kapitalismus ausgerechnet in Europa entstand und sich von hier aus ausbreiten konnte. Immerhin waren andere Weltregionen im 13. oder 14. Jahrhundert höher entwickelt - der Stand der Technologie allein kann es also nicht gewesen sein. Viele Historiker verweisen in diesem Zusammenhang auf die Kontingenz sich gegenseitig verstärkender Faktoren: der Konkurrenzdruck zwischen Produzenten, die Verfügbarkeit von Kapital, der Zuzug von Arbeitskräften vom Land, die relative politische Autonomie der Städte, die Leistungsethik des protestantischen Bürgertums etc.


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* Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus.
C.H. Beck. 525 S., geb., 29,95 €.


Der in Harvard lehrende Historiker Sven Beckert rückt zwei weitere Aspekte in den Fokus: den »Kriegskapitalismus«, also die blutige Enteignung von Land, und die massenhafte Versklavung von Arbeitskräften im Rahmen kolonialer Herrschaft, sowie das Entstehen einer modernen Staatlichkeit, die den Krieg nach außen mit einer Verrechtlichung der Machtbeziehungen nach innen verband.

Beckerts Buch ist eine empirisch bestens fundierte Untersuchung zur Geschichte der Baumwolle - von Anbau und Verarbeitung bis hin zum Massenkonsum. Der 1965 in Deutschland geborene Autor baut daraus, sehr elegant, eine weltumspannende Sozialgeschichte des Kapitalismus. Dass die Industrialisierung Europas mit der blutigen Kolonialisierung des Südens einherging und die Entfaltung des freien Unternehmertums einer Staatsmacht bedurfte, die traditionelle Solidargemeinschaften mit Gewalt zerschlug, dürfte Lesern von Marx, Fanon oder Foucault nicht unbekannt sein. Doch selten zuvor sind diese Prozesse so anschaulich, konkret und verdichtet dargestellt worden wie in »King Cotton«. Beckert wiederholt nämlich nicht einfach die altbekannte These, wonach Massenverelendung und Reichtum, Unterentwicklung und Akkumulation miteinander verzahnt sind. Er weist dies am Beispiel der Baumwolle detailliert nach. Dabei stützt er sich zunächst auf die These, dass die Baumwolle jenes Produkt war, das die Herausbildung globaler Produktions- und Handelsnetzwerke ermöglichte.

Die Baumwollverarbeitung hatte sich in Asien, Afrika und Lateinamerika unabhängig voneinander entwickelt und spielte in Europa zunächst kaum eine Rolle. Dass Baumwolltextilien ab 1600 rasant an Bedeutung gewannen, verdankte sich europäischen Händlern, die in Indien Stoffe erwarben, um sie in Afrika gegen Sklaven einzutauschen. Auf diese Weise wurde in Lateinamerika die Plantagenökonomie etabliert. »Niemals zuvor in den fünf Jahrtausenden der Geschichte der Baumwolle«, schreibt Beckert, »war ein solch weltumspannendes System entwickelt worden. Nie zuvor hatte man mit den Erzeugnissen indischer Weber Sklaven in Afrika gekauft, damit diese auf Plantagen in Amerika arbeiteten, wo sie Agrarprodukte für europäische Verbraucher herstellten.«

Mit der wachsenden Nachfrage nach Baumwolltextilien entstand ab 1600 auch in Europa, zunächst vor allem in Großbritannien, ein baumwollverarbeitendes Gewerbe. Da Löhne und Arbeitsbedingungen in den Städten von den Gilden bestimmt wurden, schuf sich die Industrialisierung ihr eigenes Prekariat. Die Spinner und Weber arbeiteten oft in einem »Verlagssystem«, also in Heimarbeit, und lebten in der ländlichen Peripherie von Städten. Erst die von der Staatsmacht betriebene Zerschlagung bäuerlicher Gemeinschaften und die Privatisierung von Allmendegütern sorgten dann für den massenhaften Zustrom billiger Arbeitskräfte in die Städte, der ein »freies« Lohnarbeitssystem möglich machte. Die technischen Entwicklungen taten ein Übriges: Sie erhöhten die Produktivität und verschafften den europäischen Produzenten Wettbewerbsvorteile.

Im Unterschied zu vielen anderen wirtschaftshistorischen Darstellungen beschreibt »King Cotton« den Globalisierungs- und Industrialisierungsprozess nicht als Gegenpol zur ursprünglichen Akkumulation. Zugleich zeigt er, dass die zentrale Idee des Liberalismus - nämlich die Vorstellung von sich selbst gestaltenden, autonomen Märkten - wirtschaftshistorisch kaum zu halten ist. Dass sich europäische Staaten und später die USA in der globalen Arbeitsteilung so erfolgreich behaupten konnten, war vor allem der Herausbildung einer modernen Staatsmacht geschuldet, die nicht nur für Rechtssicherheit zwischen Handelspartnern sorgte, sondern auch Arbeitsverweigerer verfolgte. Der moderne Staat beruhte auf der Zweiteilung der Welt. »Die ›innere Welt‹ beruhte auf Gesetzen, Institutionen und Regeln des Heimatlandes. Die ›äußere Welt‹ dagegen war gekennzeichnet von imperialer Herrschaft, ungestrafter Enteignung riesiger Gebiete und unzähliger Menschen.«

Selten ist die Weltökonomie mit so scharfem Blick und doch unpathetisch dargestellt worden. Es ist keine Übertreibung: »King Cotton« ist ein Meilenstein in der kritischen Sachbuchliteratur.

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