Unbegriffene Vergangenheit

Wilhelm Kaltenborn über Schein und Wirklichkeit der Genossenschaften

  • Rosi Blaschke
  • Lesedauer: 3 Min.

»Genossenschaften können ein wohltuendes Korrektiv in einer Gesellschaft sein, in der es mehr Erfolg verspricht, die Ellenbogen gegen den Nachbarn einzusetzen, als mit ihm Hand in Hand gemeinsam nach Erfolg zu streben.« Und Genossenschaftsbanken seien weniger abhängig von den Turbulenzen auf dem Weltfinanzmarkt. »Sie beweisen soziales und gesellschaftliches Engagement in ihren Kommunen. Sie sind gefeit vor feindlichen Übernahmen.« Das sind unbestreitbare Erkenntnisse und Erfahrungen.


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* Wilhelm Kaltenborn: Schein und Wirklichkeit. Genossenschaften und Genossenschaftsverbände.
Das Neue Berlin. 368 S., geb., 19,99 €.


Wilhelm Kaltenborn, der diverse Funktionen in nationalen und internationalen Gremien innehat, setzt sich dennoch kritisch mit dem genossenschaftlichen Verbandswesen und dessen starren Rechtsformen gerade in Deutschland auseinander. Wandel sei notwendig, um dem Anspruch der »Hilfe zur Selbsthilfe«, den Hermann Schulze-Delitzsch Mitte des 19. Jahrhunderts prägte, gerecht zu bleiben. Oder, wie UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon betonte, der Einheit von »Wirtschaftlichkeit und sozialer Verantwortung«.

800 Millionen Mitglieder zählen die Genossenschaften weltweit. Auch hierzulande ist laut Kaltenborn jeder vierte Mensch Mitglied. Die Formenvielfalt ist groß. Sie reicht von der über hundert Jahre alten EDEKA, dem größten Verband im deutschen Einzelhandel mit 300 000 Beschäftigten und zig Milliarden Euro Umsatz, bis zu »Unser Laden Falkenau eG.« im Sächsischen, der 1100 Haushalte versorgt. Und dennoch, so Kaltenborn, sind Genossenschaften in unserem Wirtschaftssystem Exoten. Nur 0,7 Prozent der Firmenneugründungen entsprechen dieser Form. Er will mit seinem Buch den Genossenschaftsgedanken beleben.

Der Autor räumt mit der Behauptung auf, dass die Genossenschaftsidee ihren Ursprung in Deutschland hatte. Seine Recherchen gehen bis in das Jahr 1761 in Schottland zurück. Kaltenborn verschweigt nicht unrühmliche, verdrängte Geschichtsetappen. Friedrich-Wilhelm Raiffeisen, Begründer der landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften, war Antisemit, unterstellte den Juden »unredliche Gesinnung«. Nach 1945 habe darüber keine Diskussion im Verband stattgefunden. Auch der Deutsche Genossenschaftsverband unterwarf sich den Nazis und bestimmte: »Ein Jude kann nicht Mitglied einer Genossenschaft sein.«

Aktuell kritisiert der Autor die im Genossenschaftsgesetz festgeschriebenen Zwangsmitgliedschaften in Prüfungsverbänden. Das widerspräche dem historischen Gedanken der Freiwilligkeit. Diese Bestimmung kam zwei Jahre nach Hitlers Machtantritt ins Gesetz und gilt bis heute. Sie muss aufgehoben werden, fordert Kaltenborn und spricht von »der Last der unbegriffenen Vergangenheit«. Insgesamt sei die Struktur des genossenschaftlichen Verbandswesens verwirrend und »ein kompliziertes, undurchschaubares Konglomerat von Verbänden, Vereinen, Firmen, Konzernen in unterschiedlichen Rechtsformen«. Es fehle Transparenz. Das Buch ist wichtig für Genossenschaftler und jene, die es werden wollen. Schade, dass Kaltenborn sich nicht der Genossenschaften in der DDR, z. B. den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften(LPG) und ihren Nachfolgern, den Agrargenossenschaften, angenommen hat. Vielleicht tut er’s im nächsten Buch.

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