Literaten, raus in die Welt!
Analytischer Realismus zwischen Engagement und Experiment
Wie sieht unsere Welt heute aus? Chaotisch, überkomplex, dennoch wird sie durch Machtverhältnisse konstitutiert, auch wenn diese kaum zu durchschauen sind. Die globalen Wirtschaftsverflechtungen sind unentwirrbar, ein unvorstellbarer Kabelsalat, alles hängt voneinander ab, nichts ist mehr greifbar, alles scheint wild strudelnd in einem Orkus aus »Alternativlosigkeit« zu entschwinden. Die Krise ist allgegenwärtig, die Krise ist zum Dauerzustand geworden, die Krise ist den Herrschenden von Nutzen, denn »souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (Carl Schmitt).
Die Menschen begehren nicht dagegen auf, sie fügen sich in ihr Los als merkantile Verhandlungsmasse, für ihre Disziplinierung durch »Pseudo-Selbstorganisation« sorgen sie aus freien Stücken, eine neue Ökonomie hat sie durch scheinbare Partizipation zum Bestandteil ihrer Beherrschung werden lassen. In der kybernetisch optimierten Gesellschaft »dient die Offenheit der Kontrolle, welche der Aufrechterhaltung der Prinzipien des Systems sichern soll« (Hans-Christian Dany).
Was soll nun angesichts einer derart demoralisierenden Zustandsbeschreibung ausgerechnet die Literatur tun? Einfach nur mitmachen? Stummer Teil sein des störungsminimierten Regelkreislaufs, Sparte höhere Unterhaltung? Das kann wohl nicht sein, das desavouierte sie vor allen Gütekriterien ihrer Tradition und bedeutete die Preisgabe ihrer Essenz. Doch wenn sie sich dem Kontrollsystem nicht fügen will, welche Möglichkeiten hat sie überhaupt, um Fluchtlinien zu entwerfen für sich und für die Fantasie und das kritische Denken ihrer jetzigen und zukünftigen Leser?
Weite Teile (nicht nur) der deutschen Gegenwartsliteratur sind thematisch wie formal manisch auf die Vergangenheit fixiert, auf das Erinnern, das Hervorholen des Verdrängten, Vergessenen, Verloreren, als sei das die einzige Qualität, die einzige Kompetenz der Literatur, die Rückschau. »Passatistisch« nannte das einst F.T. Marinetti. Warum richtet die Literatur so selten den Blick analytisch auf ihre soziale Gegenwart oder auf die Zukunft, um realistische Utopien oder Dystopien zu entwerfen?
Das ist umso erstaunlicher in einer Phase, die aus kontinuierlicher Gegenwart zu bestehen scheint, einem beständigen Recycling von Gegenwart, warum überlässt sie Computer- und Telekommunikationsunternehmen den (fingierten) Anspruch, Zukunft zu deuten und visionär zu entwerfen, statt ihre eigenen »soft skills« dagegen zu stellen?
Manche sagen, das sei die besondere Eigenschaft der Literatur, die Wiederentdeckung der Langsamkeit, einen Keil zu treiben in den hektischen Fortgang der Zeit. Aber ist das nicht ein ziemlich konservatives Feature? Wäre es nicht viel eher geraten, das Tempo der Zeit aufzunehmen oder gar zu übersteigern? Noch mehr Beschleunigung, noch mehr Tumult, um darin die verborgene Stagnation aufscheinen zu lassen. In Wahrheit ist die Gesellschaft nicht im Taumel, der verstetigte Wechsel ist nur Tünche, er verdeckt eine grassierende Stabilität sozialer, ökonomischer und ethischer Unbeweglichkeit. Die Visionen des Kapitalismus sind keine Visionen, sondern Verkaufsargumente. Die Beschleunigung neoliberalen Wirtschaftens ist keine Geschwindigkeit, sondern Ideologie, sie verschleiert das Fortbestehen rückwärts gewandter Produktionsverhältnisse. Reizniveau und Risikoschutz sind Optionen der Kontrollgesellschaft, um das reibungslose Funktionieren der Individuen sicherzustellen.
Sollte die Literatur nicht über all das hinweg gehen? Sollte die Literatur nicht die Verhältnisse zum Tanzen bringen, »nicht vom Prozess sich abwenden, sondern unaufhaltsam weitergehen, den Prozess beschleunigen« (Deleuze/Guattari)?
In diesem Sinne wäre ein »analytischer Realismus«, der den heutigen Bedingungen entspräche, auch ein »akzelerierter Realismus«, der es formal und inhaltlich mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zugleich aufnimmt, dieser sprunghaften, verstörenden Synchronizität aus kulturellen Großtaten und mittelalterlich anmutendem Terror, aus persönlicher Freiheit und totaler Überwachung, Entgrenzung, Entsublimierung, Ereignis- und Gefühlsformatierung.
Schon formal werden die meisten Werke der deutschen Gegenwartsliteratur dem nicht gerecht, hier herrschen Blockade und Rückwärtsgewandtheit, linear durcherzählte Romane, vielleicht hier und da noch mit foreshadowings oder Rückblicken, aber stets einer homogenisierenden Totalität verpflichtet. Kaum jemand greift das Repertoire der historischen Avantgarde auf: harte Montage, Brüche, Realpartikel, innere Monologe, Multiperspektivik, die Aufgabe klassischer Narrative.
Das sind keine Instrumente, um postmoderner Intertextualität zu frönen, sondern blanke Erfordernisse einer adäquaten Wirklichkeitsdarstellung. Unsere Gegenwart, unsere psychische Identität, politisch-mediale Ereignisse - sie sind nicht mehr linear, sondern zutiefst disparat, eruptiv und fragmentarisch. Das muss sich niederschlagen in Stil und Aufbau des literarischen Werkes, Atemlosigkeit, Dissonanzen, Schizophrenie, fortgeschrittene Formen und Erzählweisen, mittels derer allein eine kritisch-dekonstruierende Bestandsaufnahme und Bewertung unser Realität möglich wird.
Wir finden solche Formen besonders bei amerikanischen Autoren, David Foster Wallace, William Gaddis oder Mark Z. Danielewski. Hierzulande wären unter anderen Rainald Goetz, Reinhard Jirgl und Kathrin Röggla zu nennen. Was aber ist von einem Autor wie Michel Houellebecq zu halten? Bei ihm lässt sich kaum bestreiten, dass er die sozialen Verhältnisse zum Rotieren bringt, für Debatten und Empörung sorgt. Ist das nicht Beschleunigung in Reinkultur?
Vielleicht, jedoch mischt sich viel Kalkül hinein, nach »Ausweitung der Kampfzone«, das solcher Bestrebungen noch unverdächtig war, lotet der französische Agent Provocateur in seinen Büchern jene Reizstellen der Gesellschaft aus, die großes Erregungspotenzial versprechen, besonders deutlich wurde das am Konzept seines jüngsten Romans »La Soumission« (dt.: »Unterwerfung«). Das nützt dem Ruhm und den Verkaufszahlen, wenngleich es ihn auch etwas anrüchig erscheinen lässt. In solchem Zwielicht bewegen sich Franzosen traditionell gewandter und weniger angreifbar, als es uns Deutschen beschieden ist.
Im Zweifelsfall wappnet Leute wie Houellebecq ein tiefer und unbestreitbarer Nihilismus, der sie kaum für irgendwelche, auch nicht »rechte« Interessen instrumentalisierbar macht. Doch dieser misanthropische Negativismus führt dazu, die Welt noch fataler sich selbst zu überlassen, noch weniger Solidarität mit den Opfern globaler Wirtschaftsmächte zu erzeugen. Und ästhetisch entspricht Houellebecqs Schreiben durchaus den marktgängigen Konventionen, hier versperrt sich nichts, im Gegenteil.
Ein heutiger Realismus muss sich komplexerer Gefüge bedienen, als die Mainstream-Literatur des vergangenen Jahrtausends sie liefert. Die meisten Betriebsautoren heute haben sich eingerichtet in einem »guten Handwerk« amerikanischer Schreibschul-Tradition, ohne um eigene Form zu ringen oder Vorgaben zu zerstören, um daraus neue Muster zu schaffen. Das aber war immer Privileg und Aufgabe der neuen Kunst.
Es ist wenig verblüffend, dass ausgerechnet die »Ich«-Perspektive epidemisch grassiert: Wenn man nur »ich« sagt, schreibt man aus der Optik des vereinzelten Individuums in der globalisierten Warengesellschaft, das in den Prozessen steht, und kann nur schwer hinter die Mechanismen dieser Strukturen blicken. Gerade die jüngere deutsche Erfolgsliteratur tendiert stark zu einem ungebrochenen, identifikatorischen Erzählen, sie entwickelt Stimmtöne, die den Leser einlullen und in den heimischen Fauteuil bugsieren möchten, hinter der wahren Härte der Realität hinkt sie erbarmungswürdig hinterher.
Nun könnte man sagen, eigentlich machen die deutschen Autoren alles richtig, sie beschreiben halt die relativ friedvolle Situation in unserem Land. Das aber wäre blauäugig, denn Auflösungserscheinungen gibt es hier genug, sie werden mühsam übertüncht, verewigte Wirtschaftskrise mit struktureller Arbeitslosigkeit, gerade auch von Jugendlichen, wachsende soziale Ungleichheit, Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile, Perspektivlosigkeit, Salafismus, Rechtsradikalismus, das Bedrohungsszenario für die europäischen Gesellschaften ist groß.
Sich diesen sozialen Aporien zu stellen, wäre eine Aufgabe auch für deutschsprachige Autoren. Doch damit sie das bewerkstelligen können, müssen sie raus in die Welt, raus aus der stickigen Luft des literarischen Betriebs, den Messen, Literaturfestivals, Dichterhäusern und Preislesungen, investigativ arbeiten, sich selbst ein Bild machen, Archive konsultieren, und Menschen treffen, immer wieder Menschen.
Enno Stahl, geb. 1962, ist Autor von Romanen wie »Winkler, Werber« (2012) und zuletzt des ebenfalls im Verbrecher-Verlag erschienenen Essaybandes »Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft« (2013), in dem er u.a. das vollständige Fehlen der Arbeitswelt in weiten Teilen heutiger deutschsprachiger Belletristik kritisiert. Der vorliegende Text ist die stark gekürzte, überarbeitete Fassung eines Vortrags, den er im Dezember 2014 bei der Tagung »Social Turn in der Literatur(wissenschaft)?« in Münster hielt.
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