Oben ohne ist kein Muss
Lehrkräften darf das Tragen von Kopftüchern im Unterricht nicht pauschal untersagt werden, befand das Bundesverfassungsgericht
Seit Freitag ist es offiziell: Ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen ist mit der Verfassung nicht vereinbar. So lautet die Quintessenz eines Beschlusses des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, der nun veröffentlicht wurde. Entsprechende Passagen im Schulgesetz des Landes NRW seien rechtswidrig, entschieden die Karlsruher Richter mit einer Mehrheit von sechs zu zwei Stimmen.
Nur im konkreten Ausnahmefall könne einer Lehrkraft das Tragen des Kopftuches untersagt werden. Nämlich dann, wenn eine »hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität« vorliege.
Der Beschluss betreffe sowohl Kopftuch tragende Lehrerinnen als auch Lehrer, bestätigte ein Gerichtssprecher auf nd-Nachfrage: »Das gilt für beide Geschlechter, natürlich.«
Die sechs Richter setzten sich damit in Widerspruch zu einem Urteil der Kollegen des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003, demzufolge auch vorsorgliche Kopftuchverbote möglich seien, wenn es hierfür eine gesetzliche Grundlage gebe. Eine solche Rechtsbasis wurde daraufhin in acht Bundesländern geschaffen - nun stehen die entsprechenden Gesetzespassagen unter massivem Druck.
»NRW wird die Entscheidung unmittelbar umsetzen«, kündete die grüne Schulministerin Nordrhein-Westfalens, Sylvia Löhrmann, an. Auch Niedersachsens Landesregierung prüft nun, was das Urteil für das Land bedeute, in dem Lehrerinnen bisher nur während des muslimischen Religionsunterrichts ein Kopftuch tragen dürfen. Kopftuchverbote gelten auch an den Schulen des Saarlands, in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen und Berlin.
Die beiden Verfassungsrichter Monika Hermanns und Wilhelm Schluckebier, die gegen die Mehrheit des Senats stimmten, sehen den Spielraum der gesetzgebenden Bundesländer durch den Beschluss unakzeptabel eingeschränkt. Lehrkräfte genössen zwar individuelle Glaubensfreiheit, seien zugleich aber Amtsträger. Damit seien sie der »fördernden Neutralität des Staates« auch in religiöser Hinsicht verpflichtet.
Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit zwei konkreten Fällen aus Nordrhein-Westfalen beschäftigt. Im ersten Fall war einer Kopftuch tragenden Lehrerin gekündigt worden, im zweiten Fall wurde eine Pädagogin abgemahnt, die statt des Tuches eine Wollmütze im Unterricht trug. Die Richter sprachen von einem schweren Eingriff in die Glaubensfreiheit. Zudem würden Musliminnen faktisch vom Pädagoginnen-Beruf ferngehalten. Die Richter kippten zudem eine Regelung des NRW-Schulgesetzes, die die »Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen« privilegiert. Das sei grundgesetzwidrig, da andere Religionen benachteiligt würden.
Zahlreiche Politiker und religiöse Vertreter begrüßten das Urteil. Es »stärkt die Religionsfreiheit in Deutschland«, sagte die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders. »Auch wenn das Urteil keine generelle Erlaubnis für das Kopftuch bedeutet, ist es sehr erfreulich«, erklärte die Generalsekretärin des Zentralrat der Muslime, Nurhan Soykan. »Im Kern kommt es darauf an, was im Kopf drin ist, nicht, was darum herum ist«, betonte auch der Dezernent für den christlich-islamischen Dialog der Evangelischen Kirche im Rheinland, Kirchenrat Rafael Nikodemus.
Selbst die Bundessprecherin der »Alternative für Deutschland«, Frauke Petry, lobte das Urteil als Ausdruck religiöser Toleranz. Allerdings müsse das Bundesverfassungsgericht nun auch sein Kruzifixurteil von 1995 ändern, dass das Aufhängen christlicher Kreuze in öffentlichen Gebäuden untersagt. Kommentar Seite 2
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.