Die Verweigerungshaltung zum Staat Israel aufgegeben
Bei den arabischen Israelis erwacht nach Jahren des Desinteresses und des Wahlboykotts ein neues Verständnis für politisches Handeln
Als am Dienstagabend kurz nach 21 Uhr MEZ die ersten Hochrechnungen veröffentlicht worden sind, ist Ahmed Tibi zufrieden. Und enttäuscht. Tibi ist einer der Spitzenpolitiker der Arabischen Liste und gilt als angesehenster arabischer Politiker in Israel überhaupt.
»In der Gesamtschau hätte ich mir ein anderes Ergebnis gewünscht,« sagt er: »Ein Ergebnis, mit dem man die soziale Lage der Menschen wirklich verbessern kann.« Aber immerhin: Die Arabische Liste, ein erst kurz vor der Wahl nach langen, zähen Verhandlungen zustande gekommenes Bündnis der drei bisherigen arabischen Parteien, hat 14 der 120 Sitze errungen; möglicherweise ist sogar noch ein 15. Mandat drin. Allein waren die drei Parteien bisher bei elf, manchmal sogar noch weniger Sitzen herumgedümpelt.
Nun sind sie drittstärkste Kraft in der Knesset, drei Sitze vor der Siedlerpartei Jüdisches Heim. Ein Erfolg, der ein Wir-sind-wer-Gefühl geweckt hat; in Onlineforen, bei Facebook und Twitter feiern vor allem junge israelische Araber, nun sei für jeden erkennbar, wie stark der arabische Bevölkerungsanteil in Israel sei. So stark, dass die zionistischen Parteien, wie die etablierten Parteien in Israel genannt werden, nur noch mit Mühe Koalitionen zusammenstellen können, wenn sie die Araber umgehen. »Das wird in der Zukunft möglicherweise ein noch stärkerer Faktor werden, wenn die Potenziale der arabischen Wählerschaft weiter ausgeschöpft werden«, sagt Tibi: Man müsse nun ernsthaft darüber nachdenken, auf welche Weise man Verantwortung übernehmen will. Als drittstärkste Kraft stehen dem Bündnis nun Sitze in wichtigeren Ausschüssen zu; der Likud hatte kurz vor der Wahl davor gewarnt, Tibi werde bald im Verteidigungsausschuss sitzen. Wo er aber gar nicht hin will. Er möchte einen Platz im Finanzausschuss.
Denn die Erwartungshaltung der Wählerschaft ist immens. Als die Abgeordnete Haneen Zoabi am Dienstag ihre Stimme abgab, wurde sie von den Umstehenden beschuldigt, sie kümmere sich nicht genug um die Bedürfnisse der eigenen Wähler. Und auch anderswo ringen die Wähler mit dem bisherigen Handeln ihrer politischen Vertreter.
»Ich persönlich bin schon seit langem der Ansicht, dass die Verweigerungshaltung falsch ist«, sagt der 56-jährige Jasser Abu Mohammad, der in einem Dorf im Norden Israels seine Stimme abgibt: »Die Arbeitslosigkeit ist bei Arabern höher als bei Juden; in die Infrastruktur in unseren Ortschaften wird immer als letztes investiert, weil sich niemand dafür einsetzt. Das wird sich erst dann ändern, wenn jemand unseren Bedürfnissen eine Stimme gibt. Die Ultraorthodoxen schaffen das ja auch sehr gut.«
Und nach Jahren des weitgehenden Wahlboykotts stimmen ihm auch Menschen zu, die noch vor einem Jahr erklärten, es würde nichts bringen zu wählen.
Doch bei der Arabischen Liste ist man zwar zusammen, aber dennoch nicht beisammen: Sie wurde mehr als Zweckbündnis geboren, damit alle drei Parteien die Wahlhürde von 3,25 Prozent sicher überschreiten. Vor allem in der Frage, auf welche Weise man Regierungen unterstützen soll, ob man möglicherweise sogar eine Koalition eingehen sollte, ist man sehr zerstritten.
Die Abgeordnete Zoabi ist dagegen: »Wir können keine Regierung unterstützen, während die Besatzung fortbesteht.« Andere sind durchaus aufgeschlossen: »Mit dem richtigen Ergebnis und den richtigen Partnern könnte man auch in dieser Frage Großes erreichen«, sagt Tibi.
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