Der Kollaps kommt auf leisen Sohlen
Vorsitzende der Oppositionsfraktionen kritisieren die Personalsituation der Bürgerdienste
Wer die Existenz seines Neugeborenen bestätigen lassen will, könnte es derzeit schwer haben, überhaupt zeitnah einen Termin zu bekommen. Zumindest in Lichtenberg. Auf der Website des dortigen Bürgerdienstes findet sich zum Standesamt aktuell folgender Hinweis zu den Schließzeiten: »Bis auf Weiteres kann durch akute krankheitsbedingte Personalausfälle nur eine sehr eingeschränkte Sprechstunde stattfinden.«
Es ist lediglich ein Beispiel für ein Problem, das bereits lange debattiert wird und in nahezu allen Berliner Bezirken zu beobachten ist: Während die Stadt wächst und wächst, reagiert die Innenverwaltung nicht mit einem dem Mehraufwand angemessenen Personalentwicklungskonzept.
Das sagen zumindest die Vorsitzenden der Oppositionsfraktionen im Abgeordnetenhaus. Nach einem Vor-Ort-Besuch im Lichtenberger Bürgeramt kamen Udo Wolf (LINKE), Ramona Pop (Grüne) und Martin Delius (Piraten) am Donnerstag einhellig zu dem Ergebnis, dass die Bürgerämter unbedingt personell aufgestockt werden müssen. »Insbesondere muss die Innenverwaltung die Anwerbung von Fach- und Ausbildungskräften massiv verstärken«, sagte Wolf. »Denn wenn es weitergeht wie bisher, steht der öffentliche Dienst bald endgültig vor dem Kollaps«.
Zwar betonte der stellvertretende Bezirksbürgermeister und Stadtrat Andreas Prüfer (LINKE), Lichtenberg stehe im Vergleich mit anderen Bezirken noch einigermaßen gut da. Allerdings habe man im Jahr 2014 allein hier insgesamt 230 000 Kunden zu betreuen gehabt, was einen Zuwachs von 44 000 im Vergleich zu 2013 bedeute. War Lichtenberg lange Zeit einer der letzten Zufluchtsorte für Spontanbesuche beim Bürgeramt ohne Wochen vorher vereinbarten Termin, könnten mittlerweile auch hier viele Vorgänge nicht mehr durch ein spontanes Vorbeischauen abgearbeitet werden. Mit knapp über 50 Jahren liege zudem das Durchschnittsalter der Bediensteten recht hoch. Außerdem erreiche man aufgrund vieler Krankheitsfälle derzeit nur eine Anwesenheitsquote von 65 Prozent - für einen reibungslosen Betriebsablauf seien hingegen mindestens 80 Prozent nötig.
Grund genug für Martin Delius, grundlegende Konsequenzen zu fordern: »Mit Optimierung von Arbeitsabläufen lässt sich da kaum mehr Abhilfe schaffen. Wir brauchen deswegen neben einer Personalaufstockung auch mehr mobile Angebote und Notfallpläne zu Spitzenzeiten.« Derzeit, assistierte die grüne Spitzenfrau Ramona Pop, habe ein Amtsmitarbeiter nur fünf bis zehn Minuten Zeit für einen Kundenkontakt: »Das zeigt: Was die Menschen an Arbeitsbelastung aufgebürdet wird, ist so nicht mehr hinnehmbar.«
Im nächsten Doppelhaushalt müsse dieses Thema dringend berücksichtigt, die akuten Probleme schnell gelöst und zuvorderst sämtliche Personaleinsparungsprogramme ausgesetzt sowie überdies zahlreiche Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst endlich entfristet werden. Es sei, resümiert Udo Wolf, somit vor allem eine Frage des politischen Willens, die konkrete Personalsituation in den Bürgerämtern zu verbessern.
Gegen Ende seines Statements stärkte Wolf seine Sichtweise, dass der schlechte Ablauf in den Bürgerdiensten sich nicht aus finanziellen Sachzwängen, sondern aus einer Prioritätensetzung des Senats ergibt, mit einer kuriosen Pointe. Die Anzahl der Personen, die wegen Krankheit im Standesamt Lichtenberg ausfallen und den Betrieb gerade ins Schlingern bringen, liegt bei: eins.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.