Die verborgene Tür
Hilary Mantel: Lichte Klarheit und Schwärze in der Tiefe
Die Titelerzählung - die letzte in diesem Band - ist die eindrücklichste. »Die Ermordung Margaret Thatchers« - wir wissen, dass die »Eiserne Lady« eines natürlichen Todes starb. Aber sie wurde gehasst, so sehr, dass es auch anders hätte sein können. Was man bei der Lektüre nicht vermutet: Die Geschichte hat einen realen Hintergrund. Im August 1983, sagte Hilary Mantel später in einem Interview, habe sie tatsächlich am Fenster ihrer Wohnung in Windsor gestanden und beobachtet, wie die Premierministerin nach einer Augenoperation das Krankenhaus verließ. Wie leicht es wäre, trotz aller Sicherheitsmaßnahmen sie von ihrer Wohnung aus zu erschießen, dieser Gedanke war ihr damals durch den Kopf gegangen.
Der Attentäter aus ihrer Geschichte war also in ihr selbst geboren und fand sein Pendant in der Ich-Erzählerin, einer beherzten Person, die ihm Tee und ein Handtuch bringt, sich den Schweiß abzuwischen. Komplizin wider Willen: Sie hatte einen Handwerker erwartet, nun hätte er sie fesseln, sie umbringen können. Dass er es nach seiner Tat nicht noch tut, sie kann nicht sicher sein. Ihr Rettungsplan ist zugleich der seine: Sie zeigt ihm im Treppenhaus eine Tür in der Wand. Die sieht aus wie ein Besenschrank und ist schwer zu öffnen. Aber dahinter gelangt man durch eine weitere Tür ins Nachbarhaus. So würde der Todesschütze sich retten können.
Die Tür in der Wand - ein für die Autorin bedeutsames Bild: »Es ist der Trost des schwachen Kindes, die letzte Hoffnung des Gefangenen … Es ist eine besondere Tür, die nicht den Gesetzen von Holz und Eisen gehorcht … Patrouillierende Polizisten gehen an ihr vorbei, denn sie ist nur für das glaubende Auge sichtbar …«
Der Attentäter ist Ire, Hilary Mantel ist in einer irisch-katholischen Familie aufgewachsen. Unterschicht. Vor kurzem ist sie geadelt worden. Vom Buchumschlag blickt ein gütiges Gesicht, das doch von chronischer Krankheit gezeichnet ist. Operationen, Medikamente. Jetzt, mit 62, scheint sich ihr Leben einigermaßen gefügt zu haben. Aber alles, was vorher war, steckt noch in ihr fest. Kindliche Einsamkeit, Ängste, Armut - was für Gespenster sie da heimsuchen, man merkt es ihren Texten an.
»Von Geist und Geistern« heißt ihre kürzlich erschienene Autobiografie, aus der man Genaueres über ihre Leidensgeschichte erfährt: schmerzhafte Endometriose wurde stümperhaft mit Medikamenten traktiert. Niemals würde sie Kinder gebären. Trost fand sie in Lektüre - bei Shakespeare und den Rittern der Tafelrunde. Eine Flucht in den Geist: Sie wurde berühmt durch ihre historischen Romane. Für ihre Bände »Wölfe« und »Falken« über das Leben Thomas Cromwells (1485-1540), der die Ablösung Englands von der katholischen Kirche betrieb, erhielt sie zweimal den renommierten Booker Price. Verglichen damit, haben ihre Erzählungen einen stärker persönlichen Zugriff, auch wenn man von den konkreten autobiografischen Hintergründen oft nichts wissen kann.
Überhaupt kann man manches nicht wissen - und das gehört zum Reiz dieser Prosa. In der ersten Erzählung des Bandes wird in aufrichtig-lichter Klarheit beschrieben, wie sich eine Engländerin, die mit ihrem Mann in Saudi-Arabien lebt (auch Hilary Mantel war vier Jahre dort) eines freundlichen, aber mit der Zeit aufdringlichen Mannes zu erwehren hat. Was aber nicht klar ist, sondern vielerlei Mutmaßungen weckt, das ist ihre persönliche Situation, ist ihre Ehe. So ergibt sich beim genaueren Hinsehen auch in den anderen Texten ein jeweils schillerndes Bild. Und es zeigt sich nicht selten eine Schwärze in der Tiefe - eine verborgene Bitternis, eine grausame Erfahrung gar, eine verhohlene Bissigkeit.
In Konflikten sind Frauen meist die Verliererinnen, Männer spielen eine Vormacht aus, die ihnen eigentlich gar nicht zukommt. Wie Frauen mit ihrem Unglück leben, das verlangt Erfindungskraft von ihnen, lässt ihnen eine dicke Haut wachsen und ihren Scharfsinn reifen - wenn nicht, dann versagt ihnen das Herz, verschwinden sie aus dem Leben.
Auch das ist sozusagen eine Tür in der Wand - die letzte Möglichkeit, um sich Freiheit zu nehmen. Wobei Hilary Mantel Wert darauf legt, jede Zwangsläufigkeit auszuschließen. Gegen festgefügte Vorstellungen setzt sie die Ungewissheit des Augenblicks, der immer ein Anfang ist, ein Weg, von dem wir in dem Moment noch nicht wissen, wohin er führt.
Man »beachte die Macht der Tür in der Wand, die du nie gesehen hast. Und beachte den kalten Wind, der durch sie hindurchbläst, wenn du sie einen Spalt öffnest. Die Geschichte hätte immer auch anders sein können. Denn es gibt die Zeit, den Ort, die schwarze Gelegenheit: den Tag, die Stunde, die Neigung des Lichts, das Läuten des Eiswagens in einer fernen Gasse bei der Umgehungsstraße.«
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